Matthias Grünewald Verlag Ostfildern 2017, ISBN 978-3-7867-3120-7
Zu dem Thema der "barrierefreien Theologie" ist ein weiteres, gut lesbares Buch erschienen, das die wichtigsten Aspekte prägnant auf den Punkt bringt. Es zeigt die vielen Fallen auf, in die immer wieder im Umgang mit Heilungsgeschichten "getappt" wird. Menschen mit Behinderung werden unter einer sozial isolierten Gruppe subsumiert, infantilisiert, nicht als einzelne Individuen wahrgenommen, stigmatisiert, oder sie dienen als Projektionsfläche der Defizite von Menschen ohne Behinderung (Schiefer Ferrari 2017, S. 56). Wohl am häufigsten sind die unsäglichen, sogenannten "Empathie Übungen" zu nennen, wo Schülerinnen und Schüler "blind" oder "gekrümmt" durch den Klassenraum gehen sollen. "Diese bedienen letztlich eine Reduzierung anderer Menschen auf ein oder mehrere Differenzmerkmale und damit einer Mitleidshaltung, die wiederum zu weiteren Ausgrenzungen führt." (Schiefer Ferrari 2017, S. 120)
Ziel der Arbeit mit Heilungsgeschichten kann es auch nicht sein, Jesus als Zauberer oder Gott als Allmächtigen, der alle Naturgesetze über den Haufen wirft, darzustellen. Es geht darum zu zeigen, dass Jesu uneingeschränkte Zuwendung zu allen Menschen Ausgrenzungsprozessen entgegensteht.
Allerdings wäre auch eine solche festlegende Interpretation der Texte nicht der Narrativität gemäß. Vielmehr fordert Schiefer Ferrari "... keine eindeutigen ‚Lösungen’ und Interpretationen als Ergebnis des Unterrichts anstreben zu wollen, sondern gerade in kontroversen Überlegungen eine Bereicherung zu entdecken, die dazu anregen kann, eigene Positionen zu relativieren." (aaO.) Grundsätzlich scheinen mir gerade die Wundergeschichten wiederum zu zeigen, wie wichtig es für einen gelungenen Unterricht ist, die überkommenen Konstrukte im Verstehen biblischer Inhalte aufzuweichen und sich auf eine neue, möglichst unvoreingenommene Begegnung mit den Texten einzulassen.
Ein rundum empfehlenswertes Buch, das in komprimierter Form die wichtigsten Fragen aufgreift und zu einem heilsamen Weiterdenken anregt.
Leseprobe und Inhalt unter www.gruenewaldverlag.de
Ulrich Jung, RPZ Heilsbronn, 2/2018
Reihe "Behinderung - Theologie - Kirche" Bd. 8, Kohlhammer Verlag Stuttgart 2014, ISBN 978-3-17-025134-2
(Wer gerne am Computer liest: https://opus4.kobv.de/opus4-fau/files/1692/AnneKraussDissertation.pdf)
Der grundlegende Ansatz, der in dem Buch vertreten wird, ist die Infragestellung unseres Gesundheitsbegriffes und dem damit verbundenen Menschen- und Weltbild. "Wenn Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Rationalität zu bestimmenden Maßstäben für ein gelingendes Leben werden, finden Erfahrungen von Liminalität (Begrenztsein a.d.V.) und Angewiesen-Sein auf andere wenig Beachtung." (S. 32) Eine Theologie, die sich an diesem Menschenbild orientiert, wird zu einer "behindernden und behinderten Theologie".
Einsichtig wird diese Aussage sofort, wenn man bedenkt, dass Ulrich Bach Rollstuhlfahrer war. Auch die Verfasserin, Anne Krauß, lebt mit einer starken Hörbeeinträchtigung.
In diesem Buch werden theologische Ansätze betrachtet, in denen Theologie bewusst aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen gedacht wird (Kontextuelle Theologie - ähnlich der feministischen Theologie aus der weiblichen Perspektive).
Mich hat es sehr beeindruckt, wie befreiend es ist, den Begriff der "Normalität" zu dekonstruieren und sich bewusst zu machen, dass Krankheiten, Behinderungen, Eingeschränktheiten, Benachteiligungen und Unfähigkeiten zu einem jeden Leben dazu gehören und somit als von Gott gegeben anzusehen sind. Wir müssen nicht perfekt sein. Das in unseren Augen Unperfekte ist ebenso Gottes gute Schöpfung wie das von uns hinlänglich als schön und gut empfundene. Es ist keine "zweite Wahl Schöpfung". "Der sabbernde Spastiker und der angesehene Bischof sind beide gleich nah bei Gott und gleich weit entfernt von ihm..." (S. 68)
Ulrich Bach fordert eine "ebenerdige Theologie", die die Welt nicht von der "Tribüne" der scheinbar Gesunden herab betrachtet. Dies hat Konsequenzen. Einige Stichpunkte dazu:
Wenn wir von den "letzten Dingen" (Eschatologie) reden, so ist eine Neuschöpfung nicht die gegenwärtige Welt minus Leid, Behinderung, Krankheit und Not. Dadurch würden Krankheiten und Behinderungen (und unweigerlich die davon betroffenen Menschen) zum Inbegriff des Un-Heils in unserem Leben.
Beeindruckend auch der Bezug zur Kreuzestheologie. Gott wird erst im Kreuz, also der völligen Niederlage und Hilflosigkeit wirklich erkennbar. Ein völliger Gegensatz zu den so gerne verwendeten Bildern des allmächtigen, herrlichen und strahlenden Gottes.
Z. B. bei der Betrachtung der Wundergeschichten. Viel zu voreilig wird aus den Heilungen Jesu der Schluss gezogen, Gott wolle eine Welt ohne Krankheiten und Behinderungen (und folglich ohne Kranke und Behinderte). "Jesus heilt, weil er helfen will; Jesus predigt und treibt böse Geister aus, weil er kämpfen muss." (S.104) Bei der "Heilung eines Gelähmten" (Mk 2, 1-12) steht die Sündenvergebung im Zentrum und die Heilung ist nur wegen der Ungläubigkeit der Zuhörenden notwendig. Wie anders wird die Geschichte oft erzählt. Gerade solche Geschichten aus der Sicht eines Menschen zu bedenken, der nicht geheilt ist (oder noch besser mit ihm oder ihr) wird zu neuen Erkenntnissen führen. In meinem Unterricht die Heilung des blinden Bartimäus zusammen mit blinden Menschen zu bearbeiten, war sehr lehrreich (für mich!).
Die Theodizee Frage drängt sich in diesem Kontext auf. Aber wieso fragt man nur nach dem "Warum" bei Behinderungen und nicht auch bei Nichtbehinderungen und Gesundheit? Die Verfasserin wendet sich ausdrücklich gegen jeden Antwortversuch. Es gibt keine Antwort darauf, warum Not und Leid, Glück und Zufriedenheit, Behinderung und Nichtbehinderung zum Leben dazu gehören. Es ist so! Jeder Antwortversuch führt in die Irre. Allerdings muss in der Folge auch das Bild des "lieben Gottes" destruiert werden und Gott auch als Urgrund des (in unseren Augen) Dunklen gedacht werden.
Ein Aspekt des Themas, den ich auch selbst in meiner Arbeit mit Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung oft erlebt habe, ist der Gewinn, den ich als annähernd gesunder Mensch davon hatte. Es ist keineswegs so, dass die Hilfsbedürftigkeit nur auf Seiten von Menschen mit Behinderung zu finden ist – jede und jeder sind hilfsbedürftig. Im Gegenteil: Gerade diese Menschen sind ein unglaublicher Schatz und bereichern das Leben!
Der Denkansatz von Ulrich Bach (und Anne Krauß) ist richtungsweisend für einen guten RU an Förderschulen.
- Die SuS sind unser Gegenüber, anders als wir aber genauso (wenig) normal, wie wir selbst.
- Wir können viel von ihnen lernen!
- Wir sind herausgefordert, unsere Unterrichtsinhalte möglichst gut mit ihren Augen zu sehen, zuzuhören und genau wahrzunehmen. Am besten ist das gemeinsame Suchen nach Wahrheiten und Antworten! (auch methodisch im RU – Theologisieren mit Kindern etc.)
- Wir müssen solidarisch mit ihnen sein und gegen ihre Benachteiligungen in der Gesellschaft kämpfen!
Eine überaus anregende Lektüre.
Ulrich Jung, RPZ Heilsbronn, 2/2016