Religionskritiker zu allen Zeiten haben behauptet, dass religiöser Glaube gar nicht tolerant sein kann, wenn er doch ganz und gar von seiner eigenen Wahrheit überzeugt ist! »Religion, die es ernst meint, ist nicht tolerant.« (Bolz 2002). Es gibt demnach einen notwendigen Zusammenhang zwischen Wahrheitsanspruch und Intoleranz (bis hin zur Gewaltneigung). So hatte es auch Jan Assmann in seinem Buch Die mosaische Unterscheidung 2003 beschrieben und damit eine große Diskussion ausgelöst. »Im Glauben liegt ein böses Prinzip« schrieb schon Ludwig Feuerbach 1841 in seinem Hauptwerk Das Wesen des Christentums. Dieser Vorwurf bezieht sich nicht nur auf das Christentum, sondern auf die Religion im Allgemeinen.
Und die Geschichte und die Gegenwart scheinen Feuerbach, Assmann, Bolz unter vielen anderen recht zu geben. Wie viel Unrecht und Gewalt ist im Namen der Religion, durch Glaubenseifer, Intoleranz und religiösen Fanatismus verübt worden! »Im Namen der Religion« heißt dabei nicht unbedingt, dass religiöse Akteure oder Institutionen am Werk waren. Aber die Religion konnte dafür in Anspruch genommen werden – und oft ließ sie sich auch bereitwillig in Anspruch nehmen.
Es gibt viele Stellen in der Hebräischen Bibel, im Neuen Testament und im Koran, die man für die Begründung von Intoleranz heranziehen konnte.
Raymund Schwager fasst den alttestamentlichen Befund folgendermaßen zusammen: »In den alttestamentlichen Büchern finden sich über sechshundert Stellen, die ausdrücklich davon sprechen, dass Völker, Könige oder einzelne über andere hergefallen sind, sie vernichtet und getötet haben.« – »An ungefähr tausend Stellen ist davon die Rede, dass der Zorn Jahwes entbrennt, dass er mit Tod und Untergang bestraft, wie ein fressendes Feuer Gericht hält, Rache nimmt und Vernichtung androht; ... kein anderes Thema taucht so oft auf wie die Rede vom blutigen Wirken Gottes.« – ,,Neben den vielen Texten, gemäß denen der Herr die Übeltäter dem Schwert der Bestrafer ausliefert, gibt es über hundert Stellen, in denen Jahwe ausdrücklich befiehlt, Menschen zu töten, … ist er es, der befiehlt, menschliches Leben zu vernichten, der sein Volk wie Schlachtvieh preisgibt und die Menschen gegeneinander aufhetzt« (zitiert nach Dietrich/Link 1995: 77).
Im Neuen Testament ist das Wort von Jesus überliefert: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert« (Mt 10,34). In der Johannesapokalypse (etwa in 8,7ff; 9,13ff) oder 2. Petr 2 finden sich Texte, die man zur Begründung von Intoleranz heranziehen konnte. Auch das Gleichnis vom Großen Festmahl mit der Formulierung »nötigt sie hereinzukommen« (compelle intrare Lk 14,23) konnte im Mittelalter zur Begründung von Zwangstaufen herangezogen werden. Im Koran ist es der Schwertvers: »Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo (immer) ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf!« (Sure 9,5).
Aber man muss beim Thema »Wahrheit und Toleranz« nicht nur an die Legitimation von Gewalt denken. Es gibt ja auch die Intoleranz des Glaubens, die Andersglaubenden die Rechtgläubigkeit abspricht und sie in der Gottesfinsternis stehen sieht.
Christlicherseits hat man dafür zumeist die sog. Exklusivstellen des NT herangezogen:
»Wer da glaubt und getauft wird, wird errettet werden; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden«. (Mk 16,16).
»Wer an Christus glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht geglaubt hat an den Namen des ein¬geborenen Sohnes Gottes.« (Joh 3,18).
Christus spricht: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich« (Joh 14,6).
»Und in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden« (Apg 4,12).
Jahrhundertelang galt in der Kirche der Grundsatz: »Es gibt kein Heil außerhalb der Kirche«. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diesen Satz nicht mehr in den Vordergrund gestellt, aber er gilt immer noch.
Für Religionskritiker (z.B. Neuer Atheismus) ist die Konsequenz klar: Wenn Religionen im Kern (d. h. in ihren Wahrheitsansprüchen) intolerant sind, dann müssen sie zivilisiert werden: durch äußeren Druck, durch eine gesetzliche Zähmung, durch Verpflichtung auf Verfassungstreue usw.
Andererseits steht aber doch im Zentrum der Christus-Botschaft die gute Nachricht von der allumfassenden und bedingungslosen Menschenliebe Gottes, der alle Menschen in die Gemeinschaft mit sich ziehen will, wie es sinngemäß in 1 Tim 2,4 heißt. Nach Apg 10,34f. hat auch Petrus erkannt, »dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist«. Das Gebot der Nächsten-, Fremden und sogar Feindesliebe gilt unbedingt - unabhängig vom Glauben des Nächsten. Das ist die Wahrheit, um die es im christlichen Glauben geht. Und darin liegt eine starke Begründung für Toleranz. Man kann also nicht einfach sagen: Glauben führt mit innerer Notwendigkeit zur Intoleranz. Wer ganz von einer bestimmten Wahrheit überzeugt ist, muss damit keineswegs notwendigerweise intolerant sein. Es kommt doch ganz darauf an was der Inhalt dieser Wahrheit ist und wie sie verstanden und angewandt wird.
Brisant wird unser Thema dann, wenn es nicht nur um Glaubensinhalte anderer geht, sondern um Lebensformen und um die Regeln des Zusammenlebens. Ich unterscheide drei Bereiche, in denen es zu Toleranzkonflikten kommen kann, die von religiösen Wahrheitsansprüchen zumindest mitversucht sind:
Kann/soll man tolerieren,
Das alles sind Toleranzkonflikte, die sich am Wahrheitsanspruch von Religionen entzünden. Brisanz erhalten solche Konflikte zwischen religiösen Geboten und geltendem Recht dort, wo andere Grundrechte und elementare Rechtsgüter tangiert sind, wie etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit (aus dem sich die Helmpflicht ergibt; Beschneidung) oder auf Schulbildung (was den Sportunterricht einschließt), oder der Tierschutz (der beim Schächten verletzt wird) oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (die bei bestimmten Formen aufdringlicher missionarischer Tätigkeiten in Gefahr geraten kann) .
Auch innerhalb der Religionsgemeinschaften finden zuweilen heftige Kontroversen um das Tolerierbare und die Grenzen der Toleranz (z. B. Umgang mit Homosexuellen) statt, was gelegentlich auch zur Spaltung der Gemeinschaft oder zum Ausschluss von einzelnen aus der Gemeinschaft führen kann. In manchen Religionsgemeinschaften herrschen repressive Strukturen, die von der Verhaltenskontrolle über die Affektkontrolle bis zur Gesinnungskontrolle ihrer Mitglieder reichen können. Toleranz bzw. Religionsfreiheit meint als nicht nur die Freiheit für die Religion, sondern auch die Freiheit in der Religion und das schließt unter anderem auch die Freiheit ein, die jeweilige Religionsgemeinschaft verlassen zu können oder die Religion zu wechseln.
In einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft fordert das Toleranzgebot von den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen als die eigenen formal zu akzeptieren, obwohl man sie sich inhaltlich nicht zu Eigen machen kann. Aber kann eine Religion das?
Ich stelle drei Verständnisse von Wahrheit typisierend gegenüber. Den zwei klassischen philosophischen Wahrheitskonzepten – dem propositionalen und dem ontologischen – stelle ich ein Wahrheitsverständnis demgegenüber, das in zentralen Teilen der biblischen Überlieferung zum Ausdruck kommt und das mir Toleranz gegenüber Andersglaubenden zu ermöglichen scheint. Es ist pluralismusfähiger als die beiden anderen Konzepte. Ich werde es mit vier Begriffen beschreiben: Personal, existenziell, relational und dynamisch.
Das Wahrheitsverständnis, das im alltäglichen Gebrauch des Wahrheitsbegriffs (»die Wahrheit sagen«) zumeist unreflektiert in Anspruch genommen und das auch in der Philosophie eine lange Geschichte hat, ist die klassische Theorie, dass Wahrheit in der Übereinstimmung einer Aussage mit einem Sachverhalt besteht – die sogenannte Korrespondenztheorie. Sie ist auf Aussagen bezogen und geht mit einem klaren Dualismus von »wahr« und »falsch« einher. Entweder ist eine Aussage wahr – gemessen am Sachverhalt, den sie aussagt –, oder sie ist falsch. Wahrheit meint Zutreffendheit.
Das propositionale Wahrheitsverständnis ist nicht pluralismusfähig, sondern exklusiv. Aussagen über Sachverhalte können nur entweder wahr oder falsch sein.
Wie kann man feststellen, ob eine Aussage wahr oder falsch? Worin besteht also die Verifikation der propositionalen Wahrheit? Sie besteht in der empirischen Überprüfung: Man muss auf den betreffenden Sachverhalt schauen, um zu sehen, ob der Wahrheitswert der Aussage bei »eins« oder bei »null« liegt.
Das ist aber nicht immer einfach, in manchen Fällen sogar unmöglich. Denn manche Sachverhalte liegen in der Vergangenheit oder können sich erst in Zukunft einstellen, sind also nicht unmittelbar beobachtbar. Wenn etwa der christliche Glaube davon ausgeht, dass Jesus gekreuzigt worden ist, wenn das aber andererseits in Sure 4:157f. des Korans bestritten wird, dann kann nur eine der beiden Aussagen wahr sein. Weil die Kreuzigung aber in der Vergangenheit liegt, kann man dieses Ereignis nicht unmittelbar anschauen und ist auf die Zuverlässigkeit von Zeugnissen und damit auf die Zuverlässigkeit der Zeugen angewiesen. Es steht in diesem Fall Aussage gegen Aussage, wobei die christlichen Zeugen zwar näher am Ort des Geschehens waren, die koranische Überlieferung aber nach islamischem Verständnis unmittelbar auf Gott selbst zurückgeht.
Das propositionale Wahrheitsverständnis kommt aber auch dort an seine Grenzen, wo es nicht mehr um die Feststellung von Tatsachen, sondern um die Zuschreibung von Bedeutungen geht. Und davon lebt Religion. Es geht in der christlichen Kreuzestheologie ja nicht einfach um das Faktum der Kreuzigung, sondern um die Bedeutung des Kreuzestodes. Es ist mehr als ein historisches Faktum, dass Jesus ›für uns‹ gestorben ist. Es ein Glaubensinhalt, der über das Historisch-Faktische hinausgeht. So wie es über die materielle Substanz einer Rose hinausgeht, wenn sie zum Bedeutungsträger für Liebe wird. Und wie es über die Akustik hinausgeht, wenn mich eine Symphonie anrührt.
Während das propositionale Verständnis von Wahrheit auf Aussagen (in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit des Ausgesagten) bezogen war, ist das ontologische auf das Sein von Dingen und Sachverhalten, d.h. auf deren Seinsqualität bezogen. Wenn etwa eine Liebe als »wahre Liebe«, ein Akt oder Zustand der Versöhnung als »wahre Versöhnung«, eine bestimmte Haltung oder ein Verhalten als »wahre Menschlichkeit« bezeichnet werden, ist damit gesagt: Diese bestimmte Liebe entspricht dem Wesen von Liebe. Diese Versöhnungstat erfüllt das Ideal von Versöhnung. In diesem Akt der Menschlichkeit realisiert sich die Menschlichkeit im vollen Sinn.
Auch im Blick auf Gegenstände kommt dieses seinshafte Verständnis von Wahrheit zur Anwendung, wo man einem bestimmten Gegenstand Echtheit zuschreibt (etwa: »das ist wahres Gold«). Wahrheit als Echtheit steht in Kontrast zur Fälschung oder zu einer minderen Seinsqualität (im Sinne eines »besser« oder »schlechter«). Die Produktwerbung nimmt dieses Verständnis von Wahrheit zuweilen in Anspruch; dann nämlich, wenn das angepriesene Produkt abgehoben werden soll von anderen Produkten der gleichen Art, indem man es als das ›wahre‹ dieser Art herausstellt. Das kann geschehen indem man etwa das zu bewerbende Produkt (z.B. ein bestimmtes Automodell) mit der Gattungsbezeichnung (»Auto«) belegt und es damit als das wahre Exemplar dieser Gattung ausgibt (wie etwa in dem Slogan »Volkswagen. Das Auto«).
Dieses Wahrheitsverständnis ist in Bezug auf die Religion insofern von Bedeutung, als man schon in der Antike zwischen wahrer und falscher Religion unterschieden hat. In Lessings Ringparabel geht es um die Frage, welches der wahre Ring ist, ob und unter welchen Umständen also Judentum, Christentum und Islam für sich beanspruchen können, die wahre Religion zu sein. Die Religion, die sich für die wahre erklärt, spricht damit anderen Religionen dieses Prädikat ab. Sie werden entweder als falsche oder doch als minderwertige Religionen qualifiziert.
In der Regel wird dieser Anspruch offenbarungstheologisch untermauert: Mit seiner Offenbarung hat Gott die Fülle der Wahrheit ausgegossen. Und die Religion, die diese Fülle bewahrt, ist die wahre, weil authentische, weil auf der echten Offenbarung Gottes beruhende Religion.
Im Judentum kann das zu einem Separatismus von anderen Völkern führen, im Islam zu einem Überlegenheitsanspruch über die Offenbarungen an Mose und in Christus und im Christentum zu einem Alleingeltungsanspruch für die Christusoffenbarung.
Wahrheit in diesem seinshaften Sinn wird in Anspruch genommen, um die eigene Religion von anderen Religionen abzuheben. Es geht jetzt nicht mehr um Wahrheit in der Religion (wie beim propositionalen Modell), sondern um die Wahrheit der Religion.
Dieses Verständnis von Wahrheit hat seinen »Sitz im Leben« im Streit der Religionen. Es ist Ausdruck interreligiöser Wahrheitskonflikte und führt tiefer in diese hinein. Durch übermäßige Pluralismusfähigkeit zeichnet es sich jedenfalls nicht aus.
Nach dem Modell der relationalen Wahrheit ist Wahrheit nicht auf Dinge und Sachverhalte, sondern auf Beziehungen bezogen. Es geht um die Qualität (Tragfähigkeit) dieser Beziehungen. Von Wahrheit in diesem Sinne ist schon im Alten Testament die Rede; und dann vor allem im Johannesevangelium, also gerade dort, wo die steilsten (»Absolutheits«-)Aussagen über Jesus Christus (nach dem Modell der Seinswahrheit) gemacht werden, wie etwa die, dass er der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (Joh 14,6). Im Johannesevangelium bedeutet »Wahrheit« nicht die Irrtumslosigkeit der Erkenntnis metaphysischer Sachverhalte, die Behauptung der Zutreffendheit theologischer Feststellungsurteile oder die Verfechtung des Anspruchs, das Christentum sei die wahre Religion. »Wahrheit« ist nicht bezogen auf Positionsbestimmungen oder Aussagen. Sie wird vielmehr als eine Qualität der Gottesbeziehung und letztlich als Prädikat Gottes selbst aufgefasst: Wahrheit meint die Verlässlichkeit der Heilszusage, die Tragfähigkeit der von Gott grundgelegten Beziehung, die Vertrauenswürdigkeit eines Versprechens.
So verstanden ist »Wahrheit« also vor allem ein Beziehungsbegriff, nicht ein Behauptungsbegriff. Man kann diese Wahrheit nicht haben oder für sich beanspruchen und gegen andere ins Feld führen. Man kann sie sich nur wie einen Beziehungsraum öffnen lassen und dann in ihr sein. Ihr Aneignungsmodus ist das Gehen des durch Christus erschlossenen Weges in die Gottesgemeinschaft. Wahrheit in diesem Sinn will getan, d. h. gelebt werden (Joh 3,21). Erst als angeeignete und gelebte erweist sie sich als Wahrheit, d. h. im Vollzug zeigt sich, ob sie tragfähig und verlässlich ist. Erfasst wird diese Wahrheit im Modus von Gewissheit und ausgedrückt wird sie im Modus des Zeugnisses.
Es ist eine personale, existenzielle, relationale und dynamische Wahrheit:
Wenn einem Menschen die von Paulus ausgesprochene Zusage, dass uns nichts zu scheiden vermag von der Liebe Gottes (Röm 8,38) zu einer existenziellen Wahrheit wird, in der und aus der heraus er lebt, dann handelt sich dabei um eine solche Verheißungswahrheit. Sie wird ihm zur Wahrheit. Sie will nicht einfach eine Mitteilung machen, sondern den Adressaten in eine Beziehung ziehen. Zu ihrem Ziel kommt sie erst dort, wo sie für die Existenzorientierung dieses Menschen bedeutsam wird. Es geht bei der so verstandenen Wahrheit nicht um allgemeingültige Richtigkeit, sondern um personale Wichtigkeit. Sie besteht weniger aus übernatürlichem Sachwissen und mehr aus lebensbezogener Orientierungsweisheit.
Was bedeutet dieses Wahrheitsverständnis nun für den Konflikt religiöser Wahrheitsansprüche? Es vermag diesen Konflikt nicht einfach zu lösen, ihn aber doch in einer heilsamen Weise zu befrieden.
Es macht einen großen Unterschied, ob religiöse Wahrheiten als metaphysische Sachwahrheiten in der Perspektive der grammatischen Dritten Person verstanden werden (etwa: »Es gilt, dass Christus für dich gestorben ist«) als Glaubensdekret also – oder ob sie verstanden werden als persönlich verantwortete Glaubensgewissheit in der grammatischen Ersten Person (Singular oder Plural). Die klassischen christlichen Glaubensbekenntnisse beginnen mit »Credo«, d. h. »ich glaube«. Sie sind also immer an die Person dessen gebunden, der dieses Glaubensbekenntnis spricht. Das heißt natürlich nicht, dass die Wahrheit, die darin ausgedrückt ist, von der Person abhängt. Aber diese Wahrheit wird für diese Person erst dann zu einer existenziell bedeutsamen Wahrheit, wenn sie sich in ihrem Leben darauf einlässt. Es geht bei Glaubensaussagen nicht um Richtigkeitsurteile, sondern um persönliche Zeugnisse einer Zusage und einer darauf gegründeten Glaubenserfahrung.
Wenn sie so verstanden werden, dann kann der Glaubende nicht als selbstherrlicher Wahrheitsbesitzer auftreten, sondern bloß als demütiger Zeuge. Existenzielle Wahrheitsgewissheiten können durchaus exklusiv sein, ohne mit einer Verneinung oder gar Verurteilung anderslautender Wahrheitsgewissheiten einher zu gehen. Sie können in vielen (nicht in allen) Fällen in versöhnter Verschiedenheit miteinander bestehen. Wenn es sich dabei nicht um scharfkantig geschliffene religionsideologische Positionen handelt, sondern um lebenstragende Gewissheiten, dann kann und muss der Glaubende auch anderen das Recht zugestehen, im Wahrheitsraum ihrer jeweiligen Gewissheiten zu leben, ihre je eigenen Glaubensüberzeugungen zu ›bewohnen‹, die sie als lebenstragend erachten und mit einem Exklusivanspruch verbinden. Auf diese Weise sind existentiell-relationale Wahrheiten prinzipiell pluralismusfähig.
Erst dort, wo die existenzielle Wahrheitsgewissheit zur rationalen Wahrheitsbehauptung verschoben wird, wo sie sich von der Sprachform des an die Person des Sprechenden gebundenen Bekenntnisses löst und sich als Behauptung einer allgemeingültigen Sachwahrheit Ausdruck verschafft, kommt es zu gegenseitigen Verwerfungen.
Lässt sich Toleranz nur gegen den Glauben einfordern oder kann man sie auch aus dem Glauben begründen? Mindestens die folgenden Ansatzpunkte aus der Bibel und der christlichen Tradition lassen sich für eine solche »überzeugte Toleranz« anführen[2]:
(4.1) Die schon im AT (Lev 19,18) verwurzelte Ethik unbedingter Nächsten-, Fremden-, ja Feindesliebe (Mk 12,29ff; Mt 5,43-48), die wiederum in der Menschenliebe Gottes (Tit 3,4) wurzelt. Dazu gehören auch die Gebote, die dem Fremden besonderen Schutz gewähren (Ex 22,20–23; 23,6.9). Das Gebot der Nächstenliebe, das im NT zusammen mit dem Gebot der Gottesliebe als das höchste der Gebote bezeichnet wird, lässt sich durchaus als Toleranzgebot verstehen.
(4.2) Ein anderer Ansatzpunkt zur Begründung interreligiöser Toleranz liegt in der für Juden und Christen zentralen Vorstellung, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist (Gen 1,28). Als Geschöpf Gottes steht der Mensch in einer ursprünglichen Beziehung zu Gott – unabhängig von seiner religiösen Loyalität. Darin liegt die christliche Begründung der unveräußerlichen Menschenwürde.
(4.3) Die klassische Toleranzbegründung im dem NT war/ist das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt. 13,24-30). Es geht darin um einen Acker, auf dem Weizen wächst, aus dem dann Brot gemacht wird, also um die elementaren Existenzgrundlagen des Bauern, seiner Großfamilie und seinen Knechten. Und es geht nicht um Unkraut, das von selbst wächst, sondern um solches, das bewusst gesät worden ist, um den Weizen und damit den Bauern zu schädigen. Bei diesem Unkraut handelt es sich um den giftigen Taumel-Loch. Er heißt so, weil er Schwindelgefühle auslöst, wenn man seine Körner isst. Er sieht wie Weizen aus. Man kann ihn zunächst kaum von diesem unterscheiden. Wenn man ihn nicht bekämpft, ist die ganze Ernte in Gefahr. Aber die Bekämpfung ist schwierig. Denn die Wurzeln des Taumellochs verschlingen sich so mit den Wurzeln des Weizens, dass man die Weizenhalme mitausreisst.
Die Knechte im Gleichnis schlagen nun vor, was ihnen der gesunde Menschenverstand gebietet: Sie wollen sofort mit der Unkrautbekämpfung anfangen, auch wenn dabei ein Teil des Weizens vernichtet wird. Aber dann ist wenigstens der Rest der Ernte gerettet.
Der Bauer aber hält sie zurück. Das Unkraut soll bis zur Ernte weiter wachsen. Er sorgt sich mehr um die Weizenhalme, die bei der Unkrautbekämpfung mit ausgerissen werden könnten, als um den Gesamtertrag seiner Ernte. Das Unkraut wird vernichtet werden, sagt er, aber nicht jetzt und nicht von den Knechten, sondern erst bei der Ernte auf sein Geheiß. Auch wenn dann der Aufwand viel größer ist. Denn dann muss man Halm für Halm, Korn für Korn prüfen und scheiden. Und das alles nur, damit kein einziger Weizenhalm verlorengeht. Solange man nicht sicher unterscheiden kann zwischen Weizen und Unkraut, bleibt das Unkraut auf dem Acker Gottes. Und sicher unterscheiden kann Gott allein. Bis dahin gilt das Toleranzgebot, das Paulus in 1 Kor 13,7 aufgestellt hat: »Caritas tolerat omnia« (»Die Liebe erträgt alles«). Der Spitzensatz des Gleichnisses lautet: »Lasst beides wachsen: Den Weizen und das Unkraut.« Dieser Satz – und mit ihm das ganze Gleichnis – ist in der Geschichte des Christentums zur wichtigsten Begründung für Toleranz geworden.
Selbst Luther konnte in einer seiner Predigten über diesen Text im Jahre 1525 sagen: »Daraus merke, welche rasenden Leute wir so lange Zeit gewesen sind, die wir die Türken mit dem Schwert, die Ketzer mit dem Feuer, die Juden mit Töten haben wollen zum Glauben zwingen, und das Unkraut ausrotten mit unserer eigenen Gewalt; gerade als wären wir die Leute, die über Herzen und Geister regieren könnten und wir sie möchten fromm und recht machen, was doch allein Gottes Wort tun muss.« (125)
(4.4) Das vierte Motiv zur theologischen Toleranzbegründung besteht in der Überzeugung von der Universalität Gottes: Christlicher Glaube bezieht sich auf einen Gott, der nicht der Stammesgott der Juden und Christen, sondern Grund und Ziel der ganzen Schöpfung ist. Sein Herrschaftsbereich erstreckt sich über den ganzen Kosmos, über die gesamte Geschichte und damit auch über die Geschichte der Religionen als Geschichtswirklichkeiten. Kurz: Die Religionen sind eingeschlossen in die Schöpfung Gottes. Das bedeutet natürlich nicht, dass alle religiösen Erscheinungen – christliche wie außerchristliche – auch der Schöpfungsintention entsprechen. Aber sie unterstehen der »tolerantia Dei«.
(4.5) Die Universalität Gottes kommt auch in seiner universalen Offenbarung zum Ausdruck, von der an zahlreichen Stellen im AT und NT die Rede ist. Ich nenne nur einige: Nach Paulus hat Gott sich in den Werken der Schöpfung offenbart, so dass sich kein Geschöpf darauf berufen kann, diese Offenbarung sei ihm nicht zugänglich (Röm 1,18-20). Gott hat den Völkern sein Gesetz ins Herz geschrieben (Röm 2,14f.). Allgemeiner ist auch in Apg.14,15-17 davon die Rede, dass Gott sich den Völkern nicht unbezeugt gelassen hat. Und nach Apg 17,22-31 bescheinigt Paulus den nichtchristlichen und nichtjüdischen Athenern, dass der unbekannte Gott, den sie verehren, der Gott Israels sei. Dieser Gott aber »ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts« (Apg 17,27f.).
(4.6) Die Universalität des Heilswillens Gottes kommt schon in der Bundesgeschichte Gottes mit den Menschen zum Ausdruck. In Gen 9,1-17 ist vom Noah-Bund die Rede, den Gott mit der ganzen Menschheit geschlossen hat. Darin gibt er der Schöpfung gewissermaßen eine Bestandsgarantie. Das Zeichen für diesen Bund ist der Regenbogen. Die weiteren Bünde – der Abrahambund, der Mosebund und schließlich der Christusbund – lassen sich als Spezifizierungen dieses allumfassenden Schöpfungsbundes verstehen. Diese Bundesgeschichte ist Ausdruck des allgemeinen Heilswillens Gottes, wie er in 1 Tim 2,4 explizit zum Ausdruck kommt, wo verkündet wird, dass Gott »will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen«
(4.7) Toleranz / Interreligiöse Offenheit kann auch erwachsen aus dem Glauben an den Geist Gottes, der die ganze Schöpfung umspannt und durchdringt. In Joel 2 heißt es: Der Geist (Gottes) wird auf alles Fleisch ausgegossen. An Pfingsten ist das geschehen. Gottes Geist ist die Kraft seiner Gegenwart. Nach biblischem Zeugnis wirkt diese Macht kreativ und heilend, sie bringt Leben hervor, weckt Glauben, Liebe und Hoffnung, sie stiftet Versöhnung, Verständigung und Gemeinschaft, sie inspiriert, erleuchtet und öffnet Erkenntnishorizonte. Wenn die Kraft des Geistes Gottes allgegenwärtig ist, dann können auch die Religionen als Geschichtswirklichkeiten davon nicht ausgeschlossen sein. Ohne dass sich genau bestimmen ließe, wie sich diese Geistgegenwart in den Religionen manifestiert, ist doch anzunehmen, dass sie dort am Werk ist, wo Liebe (d. h. Überwindung von Selbstzentrierung) aufscheint.
(4.8) Religion, die es ernst meint, verabsolutiert sich nicht selbst, sondern das, worauf sie verweist: Gott. Sie unterscheidet zwischen Gotteswahrheit und Religionswahrheit. Die Wahrheit Gottes ist »größer« als alle Wahrheit, die die Religion für sich in Anspruch nimmt.
Die Differenz zwischen Gottes- und Offenbarungswahrheit kommt im NT in der Selbstunterscheidung Jesu zum Ausdruck. Er weist über sich hinaus auf Gott und auf den Anbruch des Reiches Gottes hin. In Mk 10,18 sind die Worte überliefert: «Was nennt ihr mich gut – Gott allein ist gut.« Und gerade im Johannesevangelium, das die Einheit zwischen Christus und Gott so stark betont (Joh 10,30), wird deutlich, dass Gott der semper maior (der »immer größere«) ist. Gott, der »in unzugänglichem Licht wohnt, dahin kein Mensch kommen kann« (1 Tim 6,16), bleibt auch in seiner Offenbarung ein unergründliches Geheimnis.
(4.9) Alles Religiöse – auch die Botschaft von Jesus Christus ist ausgerichtet auf ihre noch ausstehende Vollendung in Gott. Am Ende wird alle Wirklichkeit in Gott eingehen. Er wird alles in allem sein. So heißt es in 1 Kor 15,28: »Wenn aber alles Gott untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst ihm untertan sein, damit Gott alles in allem sei.« Die Zeit der uneingeschränkten Gottesherrschaft steht noch aus. Sie relativiert alle menschlichen Macht- und alle religiösen Geltungsansprüche. Die Religionen sind ›vorletzte‹‚ menschlich-kulturelle Geschichtswirklichkeiten, nicht letztgültige Institutionen göttlichen Rechts.
Die Erkenntnis der Geschichtlichkeit aller religiösen Erscheinungen drängt übergeschichtliche Ausschließlichkeitsansprüche zurück und fördert damit interreligiöse Offenheit. Die Offenbarungen, auf die sich das Judentum, das Christentum und der Islam – um nur die sog. abrahamischen Religionen in den Blick zu nehmen – berufen, sind zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten historischen Kontext ergangen und müssen in Bezug auf diesen Kontext ausgelegt werden. Eine Religion, die ihre eigene Geschichtlichkeit ernst nimmt, kann sich aber nicht verabsolutieren.
Alle diese biblischen Überlieferungen und biblisch begründeten Glaubensüberzeugungen können eine Haltung achtsamer Wertschätzung in der Begegnung mit ihren Anhängern anderer Religionen begründen. Sie bringen nicht aus innerer Notwendigkeit interreligiöse Toleranz hervor, aber sie können doch die Forderung nach dialogischen Beziehungsbestimmungen und -gestaltungen zwischen den Religionen theologisch legitimieren und die Ausbildung solcher Haltungen damit fördern.
Reinhold Bernhardt ist Professor für Systematische Theologie/Dogmatik an der Universität Basel.
Arbeitsschwerpunkte: Theologie der Religionen, Vorsehung/Handeln Gottes, Theologie und Naturwissenschaft.
Kontakt: https://theologie.unibas.ch/[...]
[1] Aus der Vorrede zu einem Fragment gebliebenen Gedicht von Lessing (1824: 95).
[2] Ich beziehe mich dabei teilweise auf Argumente, die in dem von mir verfassten Positionspapier des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (Bernhardt 2007) entfaltet sind.
Assmann, Jan (2003): Die Mosaische Unterscheidung, oder, Der Preis des Monotheismus. München: Hanser.
Bernhardt, Reinhold (2007): Wahrheit in Offenheit. Der christliche Glaube und die Religionen (SEK-Position 8). Bern: Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund. Online
frz.: La vérité dans l’ouverture. La foi chrétienne et les religions (FEPS-Position 8, übers. v. André Carruzzo). Bern: Fédération des Églises protestantes de Suisse. Online
Bernhardt, Reinhold (2019): Inter-Religio. Das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen. Zürich: TVZ.
Bolz, Norbert (2002): »Den Dialog bringt der Teufel«. Frankfurter Rundschau. Online
Dietrich, Walter und Christian Link (1995): Die dunklen Seiten Gottes. Willkür und Gewalt. Neukirchen-Vluyn: Vandenhoek und Ruprecht.
Feuerbach, Ludwig (1841): Das Wesen des Christentums. Leipzig: Otto Wigand.
G.E.Lessing (1753): Fragment »Religion« (1824 [1753]). In: Gotth. Ephr. Lessings sämmtliche Werke: Poesie und Kunst, Erster Theil. Karlsruhe: Bureau der deutschen Classiker. 93–114. 95.
Luther, Martin ([1927/1525]): »Fastenpostille«. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Band 17/II. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger. 1-247.
Schwager, Raymund (1986): Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften (2. Aufl.). München: Kösel.