Schon wieder Digitalisierung? Immer noch Digitalisierung?
Wenn wir ehrlich sind, sind wir alle dieses Begriffes mittlerweile ein wenig müde geworden. Seit Jahren ist »Digitalisierung« das Dauerthema auf Fortbildungen, in Bildungspapieren und sonstigen offiziellen Verlautbarungen von Staat und Kirche. Und doch: Mediennutzung und Medienwandel, Datensammlung und -auswertung, kurz: die die neuen Formen von Kommunikation mit und ohne menschliche Beteiligung, entwickeln sich weiterhin mit großer Dynamik – und die damit verbundenen anthropologischen, theologischen und ethischen Fragen werden damit ebenso komplexer.
»The Permanence of change« – in dieser Widersprüchlichkeit lässt sich die dauerhafte Bedeutung des Themas vielleicht am ehesten fassen.
Denn einerseits muss Digitalisierung an sich dauerhaft in unserem Fokus bleiben: Digitalisierung, Mediatisierung – allgemein der qualitative und quantitative Medienwandel der letzten Jahre ist und bleibt eine zentrale Herausforderung aller Didaktik und Pädagogik. Dies gilt in besonderem Maße für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, und noch mehr für den Religionsunterricht als dasjenige Fach, das die Schüler*innen ganzheitlich im Blick hat.
Andererseits darf die starke Abnutzung des Begriffes nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ausgesprochen facettenreich schillert – und das, was unter den einzelnen Schlüsselbegriffen verstanden wird, hat sich alleine in den letzten Jahren mehrfach gewandelt.
Auch die Handvoll Beiträge dieses Bandes zeigt paradigmatisch, wie weit das zu beackernde Feld ist – und welch wertvolle Beiträge die (praktische) Theologie und Religionspädagogik dauerhaft liefern kann:
Ilona Nord und Jens Palkowitsch-Kühl stellen die Frage nach der Freiheit im Netz. Sie zeigen grundlegende Spannungen auf, etwa wie es mit der individuellen Freiheit angesichts Big Data bestellt ist, globalen Entitäten, die den Einzelnen aus-werten und gleichzeitig innerhalb einer homogenisierenden Weltgemeinschaft ver-orten. Dabei verharren sie nicht in wohlfeiler Fundamentalkritik, sondern werben in ihrer auch theologisch differenzierten Analyse für eine positiv-realistische Haltung, die Absolutismen vermeiden, Chancen nutzen, aber auch Missstände klar zu benennen hilft.
Detlev Bierbaum unterstreicht dies aus der Perspektive eines kirchlichen Entscheidungsträgers. Er wirbt für eine offene Auseinandersetzung auch mit den Chancen, die sich für Kirche in globalen Vernetzungsmöglichkeiten ergeben können, indem er das Netz als sozialer Raum zunächst in traditionelle ekklesiologische Begrifflichkeiten fasst, blendet dabei nicht aus, dass für Kirche damit nicht nur im Blick auf das Erreichen der Zielgruppen große Herausforderungen bestehen. Der von ihm diagnostizierte Wandel von Instanzen jugendlicher Identitätsarbeit trifft dabei auch die schulische Bildungsarbeit, seinem Fazit, dem Aufbau medienethischer Kompetenzen käme eine Schlüsselstellung in diesem Prozess zu, kann man auch aus der Lehrer*innenperspektive unbedingt zustimmen.
Tanja Gojny führt die sich aus diesem Mandat im Spannungsfeld von Digitalisierung und Religionsunterricht ergebenden Potenziale und Perspektiven methodisch aus. Sie betont in klarer Abgrenzung zu einem eher an Hardware orientierten Zugang, dass sich in der mediatisierten Lebenswelt der Schüler*innen auch die an den RU anschlussfähigen Fragestellungen verändern, umgekehrt aber auch der RU mit seiner ganzheitlichen Subjektorientierung zu einem selbstbestimmten und mündigen Umgang mit der digitalen Welt befähigen kann. Im Anschluss wirbt sie für eine notwendige Entwicklung von religionspädagogischen Qualitätskriterien für digitale Bildungsmedien, damit diese einen fachspezifischen Beitrag im Rahmen der ›allgemeinen‹ digitalen Bildung leisten können – und nimmt damit auch uns alle in die Verantwortung.
Mit Johanna Haberers Beitrag schließt sich der Kreis: In zehn Abschnitten (und einer kurzen Vorrede) liefert sie eine Bestandsaufnahme einer digitalen Gesellschaft, die – ganz gemäß dem Untertitel – zwischen Gut und Böse steht, also die Grautöne, die Chancen und Risiken, sorgsam schattiert. Entgrenzung, Beschleunigung, Heilsversprechen oder Verschwörungstheorien – auf der Suche nach dem dritten Weg dazwischen stellen sich dem/r Leser*in viele produktiv verunsichernde Fragen.
Doch damit soll diese Ausgabe der ›Gelben‹ noch nicht enden: Mit einer Reihe von Impulsen aus der Praxis soll der Beweis angetreten werden, wie vielfältig die Realisierungsmöglichkeiten für das in den theoretischen Beiträgen Anklingende sind. Dabei handelt es sich weniger um ›digitale Brocken‹ (etwa in Anlehnung an das Vorläuferformat dieser Zeitschrift), sondern vielmehr um thematisch lose verbundene, aber formal höchst heterogene Praxisbeispiele, die – dem Rahmenthema angemessen – deshalb auch in Form von downloadbaren Modulen vorliegen:
Kathrin Kürzinger und Simone Birkel nähern sich dem Selfie als aktuelles mediales Phänomen unter dem Aspekt der »Identität« an, indem Jugendliche Selfies selbst erstellen und als identitätsstiftende Sinnerfahrungen für ihr eigenes Leben identifizieren.
Michael Beisel betrachtet das Selfie in seinem Praxisbeispiel unter den Aspekten Kult und Kultur. Dabei bezieht er ebenfalls Aspekte der Identitätsfindung aber insbesondere des Selbst- und Abbilds mit ein. Mit den Themen Gottesebenbildlichkeit und Bilderverbot weitet er den Horizont.
Marion Keuchen setzt bei der Erfahrung an, dass es Jugendlichen oft leichter fällt, sich in Bildern auszudrücken. In ihrer Unterrichtsskizze ermöglicht sie Jugendlichen ihren eigenen Glauben über Digitalfotografie in Bilder zu fassen, wodurch wiederum eine spezifische religiöse Sprachkompetenz entwickelt wird.
Claus Laabs, Armin Hamann und Ulrich Jung zeigen am Beispiel des Themas »Liebe und Partnerschaft«, wie religiöses Lernen durch die erlebnispädagogisch-digitale Methode »Actionbound« zum interaktiven Abenteuer werden kann.
Mit gleich drei praktischen Beispielen zeigt schließlich Gerhard Beck, wie digitale Tools einzelne Sequenzen des Unterrichts bereichern können. So werden mit Wortwolken zu »Gott als Begleiter auf dem Lebensweg« Textschwerpunkte visualisiert, wird mit Classtime ein Wissenstest zu »Religiösen Sinnangeboten« dargeboten und mit Learning Snacks das Thema »Bibel« in Form eines Chats exploriert.
Um diese Praxiselemente möglichst einfach für Ihre eigene Unterrichtspraxis adaptierbar zu machen, haben wir uns schweren Herzens dazu entschlossen, Ihnen diese nicht im ›fertigen‹ Hochglanzmodus zu präsentieren, sondern als echte Arbeitsdateien im Office-Format. In der Druckfassung unserer Zeitschrift finden Sie daher auf der entsprechenden Seite lediglich eine Reihe von Links; wenn Sie diese Seite online lesen, sind Sie Ihrem Ziel sogar noch näher.
Damit ist nun wirklich »für jede/n etwas dabei« – wir wünschen angeregte und anregende Lektüre und freuen uns auf Ihre Rückmeldungen!
Johannes Rüster
Jens Palkowitsch-Kühl
Johannes Rüster ist Redaktionsmitglied der Gymnasialpädagogischen Materialstelle der ELKB. Er ist zudem als Referent für Evangelische Religionslehre am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München tätig, Seminarlehrer am Gymnasium Fridericianum Erlangen sowie Lehrbeauftragter der FAU Erlangen-Nürnberg.
Jens Palkowitsch-Kühl ist Dekanatsjugendreferent im Dekanat Aschaffenburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Universität Würzburg. Er forscht und lehrt vor allem zu den Themen Religiöse (Medien-)Sozialisation und Medienbildung.