DIE GELBE   02|2020

Macht und Ohnmacht in der digitalen Gesellschaft

 

0 Vorbemerkung

Der Facebook-Mitbegründer Sean Parker sagte Ende des Jahres 2017 auf einer Veranstaltung der Webseite Axios über sein ehemaliges Unternehmen: Er könne die Social-Media-Nutzung mittlerweile nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren. Bei Facebook sei die Überlegung immer gewesen, wie es die Menschen dazu bringen könne, der Seite möglichst viel ihrer Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen:

Das heißt, wir müssen den Menschen ab und zu einen kleinen Dopaminschub geben, das passiert, wenn jemand Sachen von dir liked oder ein Foto kommentiert. Es ist ein Feedback-Loop, der auf dem Drang der Menschen nach sozialer Bestätigung basiert. […] Wir haben eine Schwachstelle in der Psychologie der Menschen ausgenutzt. Die Erfinder, also ich und Mark [Zuckerberg] und Kevin Systrom [von Instagram] wussten das. Und wir haben es trotzdem gemacht. (Muth 2017)

Damals – so sagt er weiter – sei allerdings noch nicht absehbar gewesen, wie groß der Einfluss eines Netzwerks von zwei Milliarden Menschen auf die Gesellschaft sein würde. Parker geht davon aus, dass Facebook inzwischen die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und den Menschen und den Menschen untereinander beeinflusst. Und zwar zum Negativen.

Digitalisierung ›zwischen‹ Gut und Böse ist mein Thema und die Frage, wie der Einzelne mit diesen entwicklungsgeschichtlich neuen, technischen Optionen zu kommunizieren (und damit Macht und Ohnmacht zu erleben) zurechtkommt und umgeht, wie sich das Leben des Einzelnen und der Gruppe durch die neuen Technologien verändert.

Vielleicht ist dieses »Zwischen« ein angemessener Begriff, um die Ambivalenzen der neuen Technologien zu beschreiben. Digitale Medien, oder besser: Informations- und Kommunikationstechnologien, verbinden Menschen zwischen allen Kontinenten, schrumpfen die Zwischenräume – global und personal. Sie verändern unseren Alltag allmählich, durchdringen unser Alltagsleben unser gesamtes Informations- und Kommunikationsverhalten. Sie sind unwiderstehlich, weil sie unglaublich wirkmächtig sind in ihrer Anwendung. Sie machen abhängig durch diese unabweisbare Geschwindigkeit und Effektivität. Es gelingt uns, durch sie blitzschnell an Informationen zu kommen, für die wir früher Tage, Wochen und Monate brauchten. Unser Informations- und Wissensmanagement hat sich total verändert:  das Denken, das vormals in die Tiefe ging, bleibt an der Oberfläche und geht sozusagen in die Breite. Der Wissenschaftsjournalist Jonathan Carr vergleicht die Denkstrategien seiner Vergangenheit mit einem Tiefseetaucher, der an einer Stelle in die Tiefe geht, während er heute eher wie ein Surfer denke, der über die Oberfläche fliegt und große Strecken zurücklegt.

Die neuen Technologien haben auch neue Machtzentren hervorgebracht, die nicht nur unsere Daten sammeln und uns bestimmten Konsumententypen zuordnen, sondern die inzwischen auch in der Lage sind, uns zu manipulieren, unsere politischen Systeme zu unterwandern und maßgeblich die Meinungsbildungsprozesse zu beeinflussen – so argwöhnen zumindest Fachleute und die kritischen Teile der Bevölkerung.

Die Entwicklungen der digitalen Gesellschaft zu analysieren, ist eine der größten Herausforderungen der Gegenwart, da sind sich die Zeitanalytiker einig. Eine solche Untersuchung bewegt sich zwischen zwei Polen: einerseits der Beobachtung, dass die meisten Phänomene, die die digitale Welt vorantreibt – z. B. Globalisierung, Partizipation oder Individualisierung – altbekannt und auch solche der analogen sind; andererseits der Einsicht, dass all diese Phänomene unter den aktuellen informationstechnologischen Bedingungen eine neue Qualität erhalten.

Deshalb ist eine gewisse Ratlosigkeit festzustellen, mit der die Geistes- und Sozialwissenschaften der hybriden Entwicklung des digitalen Wandels begegnen. In seinem posthum erschienen Werk stellt der Soziologie Ulrich Beck beispielsweise die These auf, weder »Wandel« noch »Veränderung« seien die rechten Begriffe, um die sich gegenwärtig vollziehenden Prozesse zu benennen: Er spricht sich für den Terminus »Metamorphose« aus (vgl. Beck 2016). Aus der Analyse der Beschleunigungsgesellschaft entwickelt weiterhin Hartmut Rosa sein Konzept der »Resonanz« (vgl. Rosa 2016). Und der Jerusalemer Historiker Yuval Noah Harari spricht gar von einer neuen Religion, nämlich: der »Data-Religion« (vgl. Harari 2017: 372-402). Der Technikphilosoph Luciano Floridi schlägt vor, die Transformation der Kommunikation, der Gesellschaften und der Personen in (anthropologische) Termini zu fassen, wie »Raum«, »Zeit« oder »Identität« (vgl. Floridi 2015).

1 Beschleunigung, Ambivalenz, Intention – Analogien zwischen Reformation und Digitalisierung

Dabei bemüht der Diskurs eine Reihe von Analogien, die die Diskussion um die Auswirkungen der aktuellen informationstechnologischen Innovationen bereichern.

Der theologische und kulturgeschichtliche Diskurs versteht den Kommunikationswandel während der Reformation als Medienphänomen und begründet diese Perspektive mit der bedeutenden Rolle des Buchdrucks, der diese aus kommunikationsstrategischer Sicht entscheidend vorangetrieben habe (vgl. Hamm 1996). Relevant wird diese Analogie zwischen der Reformation als Medienphänomen und der Digitalisierung durch ihren Blick auf intendierte wie nicht intendierte Folgen für politische und gesellschaftliche Folgen der Reformation (vgl. Haberer 2015).

Der bereits erwähnte Wissenschaftsjournalist und Buchautor Nicholas Carr vergleicht den gesellschaftlichen Wandel durch die Digitalisierung mit der Erfindung der Elektrizität. Diese neue, im wahrsten Sinn des Wortes erhellende Technologie habe Gesellschaften an den unterschiedlichsten Stellen absolut verwandelt. Grundlegend neu organisierten sich beispielsweise wirtschaftliche Produktionsprozesse: Spät-, Nacht- und 24-Stunden-Schichten etablierten sich. Aktivitäten ließen sich nun unabhängig von der Tageszeit planen. Das Zusammenleben der Menschen, die Rhythmen von Geselligkeit und Familienleben wandelten sich genauso wie das Verhältnis von Zeit und Raum durch neue Möglichkeiten der Mobilität, ganz abgesehen von der generellen Beschleunigung der individuellen Lebenserfahrung.

Eine weitere Analogie ist durch eine ambivalente Haltung zur Digitalisierung charakterisiert. Harald Welzer vergleicht sie mit der Erfindung der Atomkraft (vgl. Welzer 2017): Wie digitale Technologien sei Atomenergie global verbreitet und weise – als sogenannte ›saubere‹ Energie – viele Vorteile auf. Unbedacht bleiben würde dabei deren verheerendes Destruktionspotenzial und deren Spätfolgen, die oft nicht differenziert genug durchdacht würden, wie es auch bei der Digitalisierung der Fall sei. Diese Ambivalenz beschreibt schon Jaron Lanier in seiner Aufsatzsammlung Wenn Träume erwachsen werden – ein Blick auf das digitale Zeitalter. Er macht sich sozusagen betend klar, welche globale Aufgabe in den Chancen und Risiken der neuen Technologie liegen:

Anfang des Jahres 1994 wachte ich eines Morgens um vier Uhr auf und schrieb die erste Fassung dieses Textes in Form eines Gebets. Die Seehunde in Sausalito bellten aufgeregt und dann gab es ein Erdbeben. Ich betete um ein zukünftiges Netzwerk, das demokratisch, schön und spirituell war. Normalerweise käme mir das Wort ›beten‹ im Zusammenhang von Informationstechnologie nie in den Sinn, aber ich weiß einfach nicht, was man angesichts einer derart bedeutenden Aufgabe, die so viel wundervolles Potential birgt, anderes tun soll. Diese Aufgabe ist unvermeidbar und gleichzeitig etwas, das viele nachfolgende Generationen nicht mehr ungeschehen machen können, wenn wir es falsch machen. (Lanier 2015: 213f.)

Langsam ahnt auch die/der ›normale Bürger*in‹, dass diese Technologie Kriege ebenso verändern wird wie Spionage, Kriminalistik und alle Bereiche der Arbeitswelt, die Forschung und den häuslichen Alltag.

Langsam entfaltet sich das Bewusstsein dafür, dass mit der wachsenden Abhängigkeit von dieser Technologie auch die Verletzlichkeit jedes Menschen, aller Unternehmen und Staaten ins Unermessliche steigt – man kann darüber nachdenken, inwieweit damit auch das Setting dystopischer Romane wie The Circle von Dave Eggers, Mark Elsbergs Zero oder Blackout zunehmend plausibler erscheint.

Langsam erkennt die/der User*in, wie sehr diese neue Technologie in ihrer Wirkung auf Partizipationsprozesse, die Wissens- und Informationsdistribution sowie die Weltwahrnehmung der/des Einzelnen verändert. Weiter wird Stück für Stück deutlich, dass ein weltumspannendes Teilen von Wissen, Meinung und Information in seiner Massenwirkung eklatante Manipulationspotentiale birgt.

2 Entgrenzung

Doch alle diese Annäherungen von soziologischer, philosophischer, historischer oder theologischer Seite können den Wandel, die Metamorphose der Weltgesellschaft nicht umfassend erfassen.  So scheinen auch die analysierenden Wissenschaften transdisziplinäre Ansätze zu benötigen. Wie will man auch gesamtgesellschaftliche Transformationen, wie sie die Digitalisierung mit sich bringt, nur aus der Perspektive einer einzelnen Wissenschaft fassen?

Da wäre die Soziologie, die den Wandel der gesellschaftlichen Zugehörigkeiten, die Zuschreibungen und Einordnungen einzelner Personen durch Netzwerke und Suchanfragen analysieren muss: Wie wirkt sich eine solche Entwicklung auf die Wohnorte aus, auf die Mieten, auf Schufa-Auskünfte u. ä.? Werden wir nach Gehaltsgruppierungen und Konsumtypen geordnet? Was – und da ist die Psychologie gefragt – macht das mit unserer Identität, mit der Offenheit der Entwicklung des Individuums? Was macht das – so fragt die Theologie mit unserem Menschenbild als dem eines Geschöpfs Gottes, das frei ist? Das gottoffen und weltoffen ist, das verantwortlich ist für die eigenen Taten?

Was macht das Phänomen der Entgrenzung (vgl. McLuhan 1964) in der virtuellen Welt mit den Selbstbeschränkungen, denen wir Menschen unterworfen sind und die jede*r bewältigen muss: Die Grenzen des Körpers, die Leiblichkeit und deren Bedürfnisse, das Altern und das Schwachwerden und die Übermacht körperlicher Aufmerksamkeitsansprüche? Wie verhält sich die menschliche Leiblichkeit zu der Entgrenzung im globalen Netz, wo einer Macht spüren kann, weil er Menschen aufspürt, mit ihnen kommuniziert und sich in unendlichen Weiten bewegt? Menschen können ihr »Ich« bis ins Unendliche erweitern oder dehnen, mit der Folge, dass so auch ihre unterschiedlichen Rollen in der Welt zusammenfließen. In der digitalen Welt ist es schwer, dienstlich und privat, Arbeit und Familie zu trennen. Grenzen, die die Leibhaftigkeit vorgab, der Arbeitsplatz bzw. der Spielplatz, spielen nun keine Rolle mehr. Wir sind für alle immer und in jeder Situation erreichbar, ortbar, ansprechbar.

Wird uns, das ist z. B. eine transdisziplinäre Frage, diese Technologie zu einer Entwertung des Körpers führen oder im Gegenteil, wird sie uns zu einer Bewegung der körperlichen und mentalen Selbstoptimierung führen? Immer neue digitale Selbstüberwachungsmöglichkeiten können Schlafphasen und Kalorien, Schritte und Arbeitszeiten dokumentieren und dem Einzelnen so Ziele zur Selbstoptimierung anbieten. Im Augenblick beginnen auch schon die ersten Kunden einer Versicherung ihre Fitnessdaten – gegen einen Rabatt auf die Versicherungsprämie – anzubieten. Die Selbstoptimierung, die unter der persönlichen Navigation stand, mündet dann in einen Selbstoptimierungszwang durch interessierte Unternehmen, die sich perspektivisch umgekehrt dann vorbehalten, im Krankheitsfalle Zahlungen zu abzulehnen, wenn die entsprechenden Daten nicht vorliegen.

Unser Umgang mit dieser neuen Technologie vollzieht sich also in einer Dialektik der Entgrenzung einerseits und der zunehmenden Kontrolle und Einschränkung von bürgerlichen Freiheiten andererseits.

3 Beschleunigung

Wie der Soziologe Hartmut Rosa 2005 festgestellt hat, unterliegt unser Leben derzeit einer rasanten Beschleunigung. Arbeitsvorgänge, Kommunikationsakte, gegenseitige Information: Alles vollzieht sich in einer Geschwindigkeit, für die wir noch keine Einübung haben und die unsere alte Kommunikationswelt völlig auf den Kopf stellt. Die Folge ist, dass unser Kommunikationsverhalten reflexhaft wird: E-Mails oder SMS oder Whats-App-Nachrichten werden in Sekundenschnelle beantwortet.

Der Akt des Nachdenkens oder Nachfragens, der in der zwischenmenschlichen Kommunikation oft zu Klärungen beiträgt, fällt in vielen Fällen weg: Reflex statt Reflexion – die Aktion tritt an die Stelle des Überlegens.

Eine solche unmittelbare Sofortkommunikation könnte erklären, warum es in den Netzwerken immer wieder zu Empörungswellen kommt, die zugleich dann Debatten vereinfachen und polarisieren und Menschen und Menschengruppen gegeneinander in Stellung bringen (vgl. Pörksen 2009).

Diese Schnell- und Kurzkommunikation verhindert Nachdenklichkeiten, Differenzierungen, komplexe Einordnungen und treibt uns in eine Kommunikationswelt der Simplifizierung, der einfachen Nachrichten, kurzfristigen Erklärungen und vorschnellen Deutungen.

4 Ubiquität

Diese Technologie ermöglicht uns auch eine Existenz, die in der Sprache der theologischen Dogmatik Gott allein vorbehalten ist: die Ubiquität, die Omnipräsenz oder Allgegenwart. Die Theologie in ihrer Lehre von Gottes Eigenschaften meint damit eine Existenz der Allgegenwärtigkeit, die Fähigkeit, an unendlich vielen Orten gleichzeitig präsent zu sein.

»Ubiquität« – dieses Lehnwort aus der Theologie hat als ubiqitous computing Eingang in die Welt der Computertechnologie gewonnen. Die Unterstützung unseres Zusammenlebens durch Computer nimmt insbesondere mit den tragbaren Geräten eine ubiquitäre Form an. Wir als Nutzer können an vielen Orten gleichzeitig präsent sein, zugleich aber – und das ist die andere Seite – erhalten die Computer eine Allgegenwart in allen unseren Lebensvollzügen, die uns je länger je mehr unsere Abhängigkeit bewusstmacht und spüren lässt.

5 Anonymität

Diese überwältigende Präsenz und Allgegenwart wird ergänzt durch die Möglichkeit, anonym präsent zu sein. Da gibt es Personen oder Institutionen, die unter falschem Namen posten, kommentieren, teilen und die versuchen, ohne Gesicht zu zeigen, Andersdenkende in eine Minderheitenposition zu treiben, zu diffamieren, zu verführen oder ins Abseits zu drängen.

Es gibt auch die andere Seite natürlich, wie immer: Es kann auch Spaß machen, sich in unterschiedliche Figuren zu begeben und als diese zu kommunizieren. Als eine Art virtuelles Verkleidungsspiel, als Rollenspiel, um sich zu erproben und festgelegten, bisweilen festgezurrten Identitäten zu entkommen.

Menschliche Kommunikation basiert auf millionenfach variierten Zeichen und Signalen. In der virtuellen Welt sind diese vereinfacht und kategorisiert – durch Emojis, die die Gesten und Gesichtszüge repräsentieren, die Freude, die Verachtung, die Wut, die Angst oder die Begeisterung. Dennoch birgt die analoge und personale, die körperliche und räumliche Kommunikation andere Resonanzen, die verpflichtender und verbindlicher sind als die, mit denen man sich in der virtuellen Kommunikation ausdrückt oder in Szene setzt.

Den anderen Menschen erkennen und ihn achten und lieben, ihn »riechen« und spüren zu können, gibt unserer Kommunikation eine andere Tiefe und Nachhaltigkeit, ist immer noch, aber wohl weniger anfällig für Projektionen und Täuschungen im persönlichen Miteinander.

Und im politischen Diskurs einer Demokratie sind Klarnamen m. E. unverzichtbar, denn der Beitrag des Einzelnen zum Gespräch der Gesellschaft muss rückverfolgbar sein auf dessen Rolle in der Gesellschaft und dessen analoges Wirken.

6 Übergriffigkeit

Die virtuelle Welt gibt auch Raum für das völlige Vermischen von Privatem und Öffentlichem. Es ist eine Errungenschaft der aufgeklärten Neuzeit, dass Menschen ihre persönlichen und intimen Sphären trennen können von den halbprivaten, dienstlichen oder ganz öffentlichen. Nach neuzeitlicher Erkenntnis bedarf es dieser privaten Schutzräume als Orte des Aushandelns und der Meinungsbildung, bevor sich einer oder eine öffentlich am Gespräch beteiligt. Ein informiertes öffentliches Gespräch (vgl. Habermas 1990) bedarf also der privaten Räume als Voraussetzung für demokratische Prozesse.

Das bedarf im virtuellen Raum einer nachhaltigen Einübung. Wer ist »Freund«? Wer gehört in die Kategorie »Bekannter« und wer könnte welches Interessen haben, die Räume zu durchbrechen? Wenn beispielsweise intime Fotos durch einen Tastenklick einer großen Öffentlichkeit bekannt gemacht werden können, gefährdet das eine wirklich vertrauensvolle intime Kommunikation im Netz. Die missbräuchliche Verwendung von Bildern oder vertraulichen Informationen, die von abgelegten Liebhabern oder ehemals vertrauten Freunden öffentlich gemacht werden können, hat schon Biographien nachhaltig beschädigt oder gar zerstört.

Es bedarf einer neuen, wohlbedachten Kultur der Intimität und Privatheit im Netz, die beschützt und Übergriffe nachhaltig bestraft.

Und es bedarf einer neuen politischen Kultur des demokratischen Diskurses im Netz, der die Beteiligten in ein informiertes, sachliches und argumentatives Gespräch führt.

7 Destruktion und Destabilisierung durch Desinformation

In den vergangenen Jahren ist – besonders im politischen Feld - auch die Möglichkeit zur strategischen Destruktion ins Bewusstsein der öffentlichen Debatte getreten. Social Bots als Meinungsverstärker, aus dem Kontext gerissene Zitate oder aus unterschiedlichen Kontexten komponierte Fotos können Sachverhalte verzerren und interessierten Gruppen oder Parteien die Demontage Andersdenkender leichtmachen. Die sozialen Netzwerke dulden unter dem scheinliberalen Argument der »Meinungsfreiheit« das Aufkommen destruktiver Kräfte, denen an einer Destruktion der gesellschaftlichen Verhältnisse gelegen ist und die mit strategisch geplanten Lügen die demokratische Informationskultur zerstören wollen. Dem kann nur durch das Stärken glaubwürdiger Informationsquellen und professioneller journalistischer Arbeit widerstanden werden. Wie mit Gerüchten und falschen Anschuldigungen im persönlichen Bereich der virtuellen Kommunikation umzugehen ist, dafür bedarf es – neben einer gesetzlichen Neujustierung – der Erziehung zum kompetenten Umgang mit diesen neuen Kommunikationsmöglichkeiten einerseits und einer Erziehung zum kritischen und selbstkritischen Umgang andererseits.

8 Mobilisierung

Eine Reihe von Beispielen in den letzten Jahren zeigt, dass die digitale Technologie zur Destabilisierung von Gesellschaften gebraucht werden kann.

Die Beispiele der Mobilisierung der türkischen Communitiy gegen deutsche Politiker, Werte und Interessen im Vorfeld der türkischen Präsidenten- sowie der deutschen Bundestagswahlen, die daraus resultierenden Verwerfungen, Polarisierungen und Anfeindungen weisen auf die manipulativen Möglichkeiten dieser Technologie hin. Auch die Mobilisierung der sogenannten »Russlanddeutschen«, die sich auf die gefakte Nachricht hin, die russlanddeutsche Schülerin Lisa sei von einem geflüchteten Araber tagelang festgehalten und missbraucht worden, führte beinahe zu einem diplomatischen Zwischenfall, bei dem sich der russische Außenminister eingeladen fühlte, als Schutzpatron »seiner« Landsleute – wohnhaft in Deutschland – aufzutreten.

Neben den konstruktiven Mobilisierungen, z. B. gegen die Belästigung von beruflich abhängigen Frauen (#MeToo) oder für Nachbarschaftshilfe oder den Schutz von Bienen, birgt diese Technologie, die Identifikationsprozesse zu triggern vermag, eine ganz einfache Möglichkeit, pseudopatriotische Zwistigkeiten in die Welt zu setzen. Die Erkenntnisse der EU über die strategischen Möglichkeiten des Netzes, die innere Erosion der demokratischen Gesellschaften in Gang zu setzen, sprechen hier eine beredte Sprache. Und es scheint, als ob besonders Russland rechtsnationale und separatistische Strömungen – neuerdings z. B. Katalonien - zu Schwächung der Europäischen Union unterstützt. (vgl. Stürzenhofecker 2016).

9 Überwachung

Seit den Enthüllungen Edward Snowdens ist es kein Geheimnis mehr, wie die Daten deutscher und europäischer Unternehmen, Politiker und Bürger von amerikanischen Geheimdiensten abgefangen und abgehört werden. Bis heute gibt es keine politisch befriedigende Antwort auf die Übergriffe amerikanischer Geheimdienste gegenüber politischen Funktionsträgern in Deutschland. Nun könnte es sein, dass der Oberste Gerichtshof in den USA den Rechtsstreit zwischen Microsoft und Irland abschließend beurteilt, in dem Irland gegenüber Microsoft auf seiner nationalen Souveränität und der Geltung irischen Rechts in Bezug auf die Daten beharrte.

Es könnte sein, dass in den USA entschieden wird, dass alle von amerikanischen Internetfirmen gesammelten Daten im Hoheitsbereich und nach dem Recht der US-Rechtsprechung behandelt werden.

Das bedeutet das Ende der Möglichkeit, Internetkonzernen auf nationaler oder europäischer Ebene Grenzen aus der Perspektive des Datenschutzes aufzuzeigen. Und das könnte zugleich das Ende des weltweiten und freien Netzes bedeuten (vgl. Becker 2018).

10 Heilsversprechen oder Verschwörungstheorien

Eric Schmidt konnte noch vor einigen Jahren formulieren, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien – also die digitale Technologie – in der Lage sein würden, alle Probleme der Welt zu lösen, vorausgesetzt der Nutzer würde auf seine Privatsphäre verzichten (vgl. Schmidt 2015). Nun – besonders in den vergangenen drei Jahren – wird klar, dass das Netz mit seiner digitalen Kommunikation das friedliche Zusammenleben in demokratischen Strukturen mit seinen regelhaften partizipativen Modellen und Prozessen empfindlich stören könnte bzw. an dessen Destabilisierung maßgeblich beteiligt sein könnte. Wie oben geschildert bedauern einige Gründer und Erfinder von sozialen Netzwerken bereits, mit ihrer Erfindung an der Verschlechterung des kommunikativen Weltklimas beteiligt zu sein.

So sind die Heilsversprechen der Netzunternehmen mit ihren weltweiten Einflüssen eher Dystopien gewichen. Kritiker sprechen von Datenkraken und ​Sirenenservern (vgl. Lanier 2014) und warnen nicht ohne Grund davor, dass diese kommunikativen Netzwerke in der Hand von global agierenden Unternehmen, die nationale Souveränität der Staaten negieren, demokratische Regeln ignorieren, staatliche Aufsicht im Sinne einer Medienaufsicht ablehnen und im schlimmsten Fall zu einer Art Datenweltherrschaft bzw. einer Datendiktatur weiterentwickelt werden können.

Das Leben des Einzelnen mit all seinen persönlichen Spuren und Kontakten im Netz könnte politisch missbraucht werden und ein Gegenstand von Manipulation und/oder Erpressung werden. Das Zusammenleben in den demokratischen Gesellschaften, deren Grundlage die Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit von Informationen darstellt, könnte ins Wanken geraten und rechtspopulistische und separatistische Tendenzen meinungsbeherrschend werden lassen.

Zwischen den Heilsversprechen und den Dystopien lässt sich vielleicht ein Weg finden, wie diese digitalen Netzwerke, die solch ungeahnte und wundervolle Möglichkeiten bieten, sich an die demokratischen Regeln und Strukturen anpassen und sich den Rechtsnormen der unterschiedlichen Gesellschaften zu beugen lernen – in jedem Fall gilt es für den Einzelnen, einen aufgeklärten Umgang mit diesen komplexen Kommunikationsmöglichkeiten zu bekommen.

Dieser aufgeklärte Umgang fordert eine Umstellung des Einzelnen in seinem Kommunikationsverhalten. Garantiert bisher der Rechtsstaat – grundgesetzlich gesichert – die kommunikative Privat- und Intimsphäre (vgl. GG Art. 10), kann ein nationales Gesetz dieses Versprechen auf Datenschutz nicht mehr gewährleisten. Also muss der Einzelne eine neue Form von Aufmerksamkeit aufbringen und eine andere Form der Kommunikationskompetenz erwerben.

Dazu hilft beispielsweise eine konsequente Selbstbeobachtung beim Kommunikationsverhalten, also der Versuch, einen reflexiven und reflektieren Umgang mit den Informations- und Kommunikationstechnologien zu gewinnen. Zum Beispiel indem ich frage: Wo liegen meine Daten? Wer hat meine Passwörter? Wer hat im Falle meines Todes Zugang zu beidem?

Es gilt auch, einen spirituellen und reflexiven Umgang mit der Zeit in den neuen Kommunikationsräumen zu gewinnen: Bin ich ständig online? Habe ich Ruhezeiten, Zeiten der Nichterreichbarkeit? Wie gestalte ich angesichts des Totalanspruchs dieser Technologie auf meinen Tagesablauf und meine Orientierung in Zeit und Raum die Kunst der Selbstbeschränkung? Gibt es einen regelhaften und reflektierten Umgang, der auch an die anderen Mitglieder des Haushalts kommuniziert werden kann? Wie regeln die Jugendlichen und die Kinder ihren Umgang, wie kann man sie vor der Totalvereinnahmung schützen?

Es gilt also, zwischen der Dystopie und den Untergangszenarien beziehungsweise der Welterlösungsformel einen dritten Weg zu finden, der einen kühlen, informierten, rationalen, reflexiven und beherrschten Umgang mit den neuen Kommunikationsmitteln ermöglicht.

 

Zur Autorin

Johanna Haberer studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Theologie. Sie war unter anderem Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der ELKB und der Rats der EKD, Chefredakteurin des Sonntagsblatt sowie eine der Sprecherinnen des Wort zum Sonntag. Sie ist eine der Herausgeberinnen der Zeitschrift Publik-Forum sowie seit 2001 Professorin für Christliche Publizistik an der Theologischen Fakultät der FAU Erlangen-Nürnberg.

Literatur

 

Beck. Ulrich (2016): Die Metamorphose der Welt. Berlin: Suhrkamp.

Becker, Markus (2018): »US-Gericht entscheidet über unsere Privatsphäre.« <Online> [Zugriff: 15.01.2020].

Carr, Nicholas (2010): Wer bin ich, wenn ich online bin…: und was macht mein Gehirn solange? - Wie das Internet unser Denken verändert. München: Blessing.

Floridi, Luciano (2015): Die 4. Revolution. Wie die Infosphäre unser Leben verändert. Berlin: Suhrkamp.

Haberer, Johanna (2015): Digitale Theologie. Gott und die Medienrevolution der Gegenwart. München: Kösel.

Habermas, Jürgen (1962/1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hamm, Berndt (1996): »Die Reformation als Medienereignis.« JAHRBUCH FÜR BIBLISCHE THEOLOGIE 11.  137-166.

Harari, Yuval Noah (2017): Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München: C. H. Beck.

Lanier, Jaron (2014): Wem gehört die Zukunft? Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt. Hamburg: Hoffmann und Campe.

Lanier, Jaron (2015): Wenn Träume erwachsen werden. Ein Blick auf das digitale Zeitalter. Hamburg: Hoffmann und Campe.

McLuhan, Marshall (1968): Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf: ECON.

Muth, Max (2017): »Scharfe Kritik: Mitbegründer Sean Parker schießt gegen Facebook.« <Online> [Zugriff: 15.01.2020].

Pörksen, Bernhard: »Einleitung«. In ders. und Jens Bergmann (Hrsg., 2009): Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung. Köln: Halem. 13-33.

Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.

Schmidt, Eric (2015): How Google Works – Wie Google tickt. Frankfurt/New York: Campus.

Stürzenhofecker, Michael (2016): »EU-Parlament warnt vor russischer Propaganda.« <Online> [Zugriff: 15.01.2020]

Welzer, Harald (2017): »Schluss mit der Euphorie!« DIE ZEIT 18/2017. <Online> [Zugriff: 15.01.2020]

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