Hannah Arendt und die »Banalität des Bösen«

Begründung

 

Ohne das Böse scheinen wir – zumindest in der Popkultur – nicht mehr auszukommen. Kein Kinofilm, kein Netflix-Abend wäre ohne einen Schurken denkbar, der die Kräfte des Guten herausfordert und damit den Helden überhaupt erst die Möglichkeit bietet, ihr Heldentum unter Beweis zu stellen. Dabei begnügen sich die Drehbuchautoren längst nicht mehr damit, ihren Bösewicht einfach »nur« böse sein zu lassen, sondern geben seinem Handeln eine komplexe Motivation, die oft genug die Grenzen zwischen richtig und falsch verschwimmen lässt. Diese neuen Bösen sind oft auch Gescheiterte, Ängstliche und sogar solche, die sich auf dem Weg des Guten glauben,[1] immer aber irgendwie anders und, manchmal mehr noch als die Helden selbst, außergewöhnlich. In dieser Hinsicht hat das Böse in unserer Alltagskultur, insbesondere bei den Jugendlichen, durchaus Konjunktur und bietet einen reizvollen Aufhänger, um über Fragen der Ethik und des Handelns ins Gespräch zu kommen.

Der vorliegende Unterrichtsentwurf nutzt diese Faszination, die von den Bösewichtern der Popkultur ausgeht, um die Schüler an die Idee des ganz anderen, viel gewöhnlicheren und unscheinbaren Bösen heranzuführen, das die jüdische Philosophin Hannah Arendt als »banal« bezeichnet hat. Im Auftrag des amerikanischen Magazins The New Yorker war sie im Jahr 1961 in dem Jerusalemer Gerichtssaal anwesend, in dem Adolf Eichmann, dem Organisator der KZ-Transporte, der Prozess gemacht wurde. Während die Welt ein Monster erwartete, das in einen Glaskäfig gesperrt werden musste, sah sie nur einen sehr durchschnittlichen Mann, geradezu einen »Hanswurst«[2], der in erster Linie ein effizienter Bürokrat sein wollte und darüber das eigene Denken und das eigene Urteilen aufgab. Verglichen mit den eingangs erwähnten Bösewichtern der Popkultur mag er auf den ersten Blick enttäuschend gewöhnlich wirken, man kann ihn aber auch umgekehrt erschreckend gewöhnlich finden, weil er das Böse aus der Sphäre des Anderen und Fremden ganz nah an uns heranholt. »Banal« heißt dieses Böse, weil es anders als bei den meisten Filmgestalten gerade nicht aus persönlichen Motiven und Überzeugungen heraus entsteht, sondern aus gedankenlosem Gehorsam. Auch wenn heute Arendts Interpretation von Eichmanns Charakter nicht mehr ohne Weiteres geteilt wird[3], so geben uns doch ihre Konzepte der »Banalität des Bösen«[4] und der »Herrschaft des Niemand«[5] nach wie vor zu denken.[6] Auch wenn wir nicht mehr in einem der autokratischen Systeme leben, die Arendt vor Augen hatte, so leben auch wir nach wie vor in einer Massengesellschaft und damit in der von ihr beschriebenen Gefahr, unser eigenständiges Denken und unsere persönliche Verantwortlichkeit nur allzu gern aufzugeben.

Um die SchülerInnen an Hannah Arendts berühmtes Konzept der »Banalität des Bösen« heranzuführen und sie auch nachspüren zu lassen, wie Eichmann als Person auf Arendt gewirkt haben muss, wird hier als zentrales Medium der Film »Hannah Arendt. Ihr Denken veränderte die Welt« (2012) der Regisseurin Margaretha von Trotta genutzt. Der Unterrichtsentwurf arbeitet mit drei Szenen daraus: Die ersten beiden zeigen unter anderem historisches Archivmaterial aus dem Eichmannprozess, das in den Film integriert wurde. Die dritte nimmt den Zuschauer mit in einen Hörsaal, in dem Hannah Arendt, gespielt von Barbara Suckow, ihre Theorie der Banalität des Bösen entfaltet. Dadurch werden Quellenmaterial und fiktive Szenen verbunden, die sich wie Frage und Antwort zueinander verhalten und sowohl zum eigenen Deuten als auch zum gedanklichen Nachvollziehen einladen.

Die Stunde ist für den Lernbereich 12.1 »Ich konnte nicht anders...? - Die Frage nach dem Gewissen« des G8-Lehrplans konzipiert und bietet in diesem Kontext einen philosophischen Erklärungsansatz für böses Handeln. Denkbar wäre aber auch, ggf. mit entsprechenden Anpassungen, der Einsatz im Themenbereich 9.4 des LehrplanPlus mit dem Ziel, sich mit dem Warum der NS-Verbrechen auseinanderzusetzen. Im Lehrplanbereich 11.2 »Freiheit leben« kann der Fall Eichmanns als Beispiel dienen, warum Menschen in der Geschichte nur allzu gern ihre Freiheit und Eigenverantwortung zugunsten der Unterordnung unter eine Autorität aufgaben.

 

Literaturhinweise:

  • Alois Prinz: Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt, Berlin 32012.
  • Walther Ziegler: Hannah Arendt in 60 Minuten, books on demand, ohne Angabe zum Ort 2018.
  • Philosophie Magazin. Sonderausgabe 11 2018: Das Böse.

 

Dr. Michael Hopf

 


[1] Als ein Beispiel für solche komplexeren Bösewichte aus der Popkultur sei hier an die Figur von Anakin Skywalker aus der Star Wars Saga erinnert, der sich letztlich aus Angst vor Verlust von der Dunklen Seite verführen lässt und hofft, den Tod seiner Freundin dadurch abzuwenden.

[2] Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 32012 (e-book Ausgabe), S. 81.

[3] Inzwischen liegen Dokumente vor, die Eichmann als überzeugten Antisemiten ausweisen, eine Seite von sich, die er im Prozess aus taktischen Gründen nicht zeigte.

[4] Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 32012 (e-book Ausgabe), S. 34.

[5] Ebd., S. 36.

[6] Wie leicht Menschen in eine bloße Autoritätshörigkeit verfallen, zeigte auch das nach dem Psychologen Stanley Milgram benannte »Milgram-Experiment« aus dem Jahr 1961: Auf Anweisung einer scheinbaren Autorität erteilten die Probanden anderen Menschen Stromschläge, obwohl diese sichtlich darunter litten. Dazu und zu anderen Facetten der Aktualität Arendts vgl. Walther Ziegler: Hannah Arendt in 60 Minuten, S. 66-95.

 

 

Kompetenzerwartungen und daraus abgeleitete Verlaufsvorschläge

 

Die Schülerinnen und Schüler können …

  • den Begriff des Bösen reflektieren und verschiedene Begriffsfüllungen aus Popkultur und Philosophie entfalten.
  • verschiedene Auffassungen eines abstrakten Konzepts wie »das Böse« miteinander vergleichen und die Spannung zwischen eigenen Erwartungshaltungen und neuen Ansätzen erkennen.
  • eigene Erwartungshaltungen bezüglich des Bösen mit konkreten Fallbeispielen vergleichen und daraus Schlüsse ziehen.
  • das Auftreten von Personen in Filmmaterial beurteilen und ihre Motive erfassen.
  • das Konzept der »Banalität des Bösen« darstellen und es auf seine Relevanz für die Gegenwart hin prüfen.
 Soz.formMat.

Einstieg

Die erste Phase der Unterrichtsstunde soll dazu dienen, dass sich die SchülerInnen ihrer Vorstellung dessen, was »böse« ist, bewusst werden. Dies kann in einer Vorstunde oder in einer vorbereitenden Hausaufgabe etwa in Form von Collagen erfolgen, die zu Beginn der Stunde vorgestellt und verglichen werden.

Alternativ kann das Arbeitsblatt verwendet werden. Es sieht an dieser Stelle die Auflistung »böser« Figuren aus Literatur und Film vor, die hinsichtlich ihres Auftretens und ihrer Motive als Kontrastfolie für Arendts Verständnis von Eichmann dienen sollen.

Impuls:

  • Notiert zusammen mit eurem Partner drei Figuren aus Literatur und Film, die ihr spontan als »böse« bezeichnen würdet. Erklärt diese Wertung, indem ihr die jeweils »böse« Motive und Eigenschaften ergänzt. Nutzt die Tabelle auf dem AB.

Anschließend werden die Ergebnisse in einem Unterrichtsgespräch ausgewertet und – wenn entsprechend Zeit zur Verfügung steht – bereits verglichen.

Mögliche Impulse:

  • Stellt bitte eure beispielhaften Bösewichte kurz vor!
Wir haben uns viele Figuren vor Augen geführt, die das Böse verkörpern. Hier zeichnen sich bereits Gemeinsamkeiten ab…

 

 

 

 

 

 

 

 

PA

 

 

 

PL

 

 

 

 

 

 

 

 

M1 AB, M2 Lösung

Erarbeitung

Die Lehrkraft leitet zur nächsten Unterrichtsphase mit dem Hinweis über, dass ähnliche Erwartungen, wie sie die SchülerInnen gerade geäußert haben, auch auf den ehemaligen Organisator der KZ-Transporte Adolf Eichmann projiziert wurden, als dieser 1961 in Jerusalem vor Gericht gestellt wurde. Auch zu Beginn des folgenden Filmausschnitts werden diese Erwartungen thematisiert.

Die SchülerInnen erhalten den Auftrag, die Abschnitte TC: 22:10-27.33 und TC: 34.10-36.57 des Films »Hannah Arendt« anzuschauen und währenddessen bzw. im Anschluss den Abschnitt »Filmarbeit 1« auf dem AB zu bearbeiten: Sie halten fest, wie Eichmann auf sie wirkt und welche Motive er für sein Handeln angibt. Die SchülerInnen sollten darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den Aufnahmen von Eichmann um historisches Material aus dem Prozess und nicht um Fiktion handelt.

Im Anschluss stellen die SchülerInnen ihre Beobachtungen vor, die auf der Tafel oder auf dem AB unter der Dokumentenkamera notiert werden. Am Schluss erfolgt in EA – oder kürzer im PL – ein Vergleich der zu Beginn formulierten Erwartungen mit der Person Eichmanns. Das Ergebnis sollte festhalten, dass der Nationalsozialist nicht wie ein Ungeheuer oder sonst in irgendeiner Form unmenschlich, sondern geradezu gewöhnlich und seine Motive »banal« wirken. Hierin lag schließlich auch ein erschreckendes Moment von Arendts Ansatz: Das Böse lässt sich nicht auf das Abartige verschieben, sondern kann in einer allgemein menschlichen Gewöhnlichkeit, im Jedermann, ruhen. In diesem Zusammenhang kann optional auch die Frage gestellt werden, warum die Filmfigur Arendt während des 2. Ausschnitts lacht: Das Böse ist in Gestalt Eichmanns geradezu lächerlich gewöhnlich.

 

 

 

 

 

 

EA

 

 

 

 

 

PL

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

M1 AB, M3 Film

 

 

 

 

Vertiefung

Nachdem nun das Phänomen der »Banalität des Bösen« in seiner äußeren Gestalt beschrieben wurde, dient die letzte Phase des Stundenentwurfs dem Verstehen der zugrundeliegenden Haltung. Auf dem Arbeitsblatt entspricht dies dem Abschnitt »Filmarbeit 2«.

Optional: Auch dieser Schritt kann durch die SchülerInnen in einer kurzen Einzelarbeit vorbereitet werden, indem sie das Feld »Worin besteht Eichmanns Böse-Sein« in der Tabelle ausfüllen. Dieser Schritt kann aber auch übersprungen werden, um Zeit zu sparen.

Die SchülerInnen erhalten nun den Auftrag, den Ausschnitt TC 1.31 – 1.38 aus dem Film »Hannah Arendt« anzuschauen, in dem die Philosophin in einem Hörsaal ihr Verständnis von Eichmanns Bösesein darlegt. Dabei sollen die SchülerInnen zentrale Gedanken im entsprechenden Feld der Tabelle festhalten, wobei das Schlagwort »Banalität des Bösen« aufgenommen werden sollte.

Anschließend werden die Ergebnisse im Plenum verglichen.

 

 

 

 

EA

 

 

EA

 

 

PL

 

 

 

 

M1 AB

 

 

M1AB, M2 Lösung, M3 Film

Übertragung / Hausaufgabe

»Menschen, die sich weigern, Individuen zu sein«. Mit diesen Worten erklärt Hannah Arendt im Film den Typus des Nobodys, der anstatt zu denken und zu seiner persönlichen Verantwortung zu stehen lieber in der Anonymität der Massengesellschaft oder hinter Gesetzen verschwindet und sich angleicht. Auch heute noch wird aus dieser Haltung heraus manches Verhalten gerechtfertigt, das wir vielleicht wider besseres Wissen an den Tag legen. Auf der Rückseite des ABs ist dies in alltagssprachliche Formulierungen übersetzt. Die SchülerInnen suchen als Hausaufgabe nach beispielhaften Situationen, in denen Menschen mit diesen Argumenten persönliche Verantwortung von sich abschieben und sich auf eine gesichtslose Masse oder ein anonymes Gesetz berufen.

 

 

 

 

 

EA

 

 

 

 

 

M4 AB

Wir bedanken uns herzlich bei allen Rechteinhabern für die Genehmigungen, ihr Material in diesen Entwurf mit aufzunehmen. Trotz aller Bemühungen ist es uns bei den Recherchen nicht in allen Fällen gelungen, die Urheber ausfindig zu machen.  Sollten Fremdrechte bestehen, bitten wir die Rechteinhaber, uns zu benachrichtigen.

 

 

Das Konzept als PDF

Alle Materialien


Lehrplanbezug

Ev 11.1 Wahrnehmung und Wirklichkeit

ER 11.2 Freiheit Leben

ER 12.2 Der imperfekte Mensch

  

Materialindex

M1 | Arbeitsblatt

»Hannah Arendt und die Frage: Was ist das Böse?«

M2 | Lösung zum AB

»Hannah Arendt und die Frage: Was ist das Böse? - Lösungsskizze«

M3 | Film

»Hannah Arendt. Ihr Denken veränderte die Welt « (2012)

TC: 22:10-27.33

TC: 34.10-36.57

TC 1.31.00 – 1.38.00

(als Datei zum Download oder als Leihmedium (DV02273) bei der EMZ erhältlich)

M4 | Arbeitsblatt

»Alle anderen machen das auch so!«

  

Schlüsselbegriffe

 

  • Banalität des Bösen
  • Hannah Arendt
  • Nationalsozialismus
  • Ethik
  • Gewissen
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