»Als digital native […] wird eine Person der gesellschaftlichen Generation bezeichnet, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist.« So definiert die allseits bekannte Homepage »Wikipedia« den Begriff des »digital native«, der in den letzten Jahren einen gewissen Hype in der didaktischen Fachliteratur erlebte. Doch wie hilfreich dieser Begriff in der pädagogischen Auseinandersetzung mit der Schülerwirklichkeit ist, bleibt durchaus fraglich. Ja, Schülerinnen und Schüler von heute sind – meistens noch im Gegensatz zur Lehrkraft, dem »digital immigrant« – mit digitalen Technologien von Kindesbeinen an aufgewachsen. Doch einen pädagogischen Mehrwert hat diese Bezeichnung daher noch nicht. Ganz im Gegenteil ist im Unterricht immer wieder zu beobachten, dass Kinder und Jugendliche vielleicht schneller mit einer Bedienoberfläche zurechtkommen, aber – wie früher eben auch schon – sich mit der Funktionsweise von Medien nicht wirklich auseinandersetzen und sie oft gar nicht erst kritisch hinterfragen. Genau hier soll dieser Baustein ansetzen und den Gebrauch von Online-Enzyklopädien, besonders von Wikipedia, zum interaktiven Unterrichtsgegenstand machen.
Seit Januar 2001 existiert das meistbenutzte Online-Nachschlagewerk der Welt, Wikipedia. Der Name »Wikipedia« leitet sich über zwei verschiedene Begriffe her: Die Endung »-pedia« aus dem Englischen »encyclopedia« (Enzyklopädie) und das »Wiki« ist ein Wort aus dem Hawaiianischen, was so viel wie »schnell« bedeutet. Hinter dem Wort »Wiki« verbirgt sich aber noch mehr, schließlich ist Wikipedia nicht das einzige Wiki im Internet. Ein »Wiki« bezeichnet in der Online-Fachsprache ein Hypertext-System für Webseiten, deren Inhalte von den Benutzern nicht nur gelesen, sondern auch online direkt im Webbrowser geändert werden können. Jeder kann teilhaben und mitgestalten, dafür muss man nicht einmal in der Wikipedia-Community registriert sein.
Dies ist gleichzeitig einer der häufigsten Kritikpunkte an Wikis, bei Wikipedia jedoch oft unreflektiert und damit zu Unrecht angebracht. Denn Wikipedia verfügt über ein sehr gut funktionierendes System der Selbstkontrolle: Zunächst muss jeder neue Artikel – je nach Lexikonkategorie – gewissen Standards entsprechen, den sog. »Relevanzkriterien«. Neue Artikel oder Bearbeitungen von Artikeln werden nicht sofort übernommen, sondern innerhalb der Wikipedia-Community zur Diskussion gestellt. Die registrierten Nutzer, die sich für die Kategorie des Artikels (z.B. Literatur) interessieren, werden benachrichtigt und können die Bearbeitung bzw. den neuen Artikel begutachten und bei Bedarf auf die vollständige Versionsgeschichte des Artikels zugreifen. Sollte es Rückfragen oder Fehler geben, die vom ursprünglichen Autor nicht bearbeitet werden, wird der neue Teil nicht übernommen oder von den Mitgliedern entsprechend bearbeitet. Gibt es über einen bestimmten Zeitraum keine Kritikpunkte (mehr), so wird der neue Artikel oder die Bearbeitung in Wikipedia aufgenommen.
Das Er- bzw. Bearbeiten eines neuen Artikels ist dabei technisch relativ einfach, indem man einfach per Texteingabe den Artikel verändert. Um Formatierungen zu setzen, sind allerdings spezielle Syntaxbefehle notwendig (vergleichbar mit der HTML-Sprache). Diese können aber leicht durch die Hilfefunktion angezeigt werden. Zudem kann man anhand vorhandener Artikel einfach per »copy/paste«-Verfahren die für Wikipedia-Artikel typische Art der Formatierungen übernehmen.
Es ist also festzuhalten, dass jeder Nutzer von Wikipedia – egal ob registriert oder nicht – am Online-Lexikon mitarbeiten kann. Wikipedia ist also im Prinzip nichts anderes als eine Schreibwerkstatt (»Prinzip des kollaborativen Schreibens«), jedoch in globalem Ausmaß.
Wie kann das Ganze nun für den RU gewinnbringend genutzt werden? Ein ganz einfacher Ansatzpunkt, der über zwei Varianten beschritten werden kann, liegt dabei auf der Hand: die Erstellung eines »Online-Klassenlexikons«, an dem die Klasse die »Community« bildet und mittels kollaborativen Schreibens zusammenarbeitet.
Dabei kann im RU im Prinzip an alle Themen angedockt werden, wodurch eine Art Lexikon zu jedem Lehrplan-Thema entstehen kann, evtl. noch mit ausgewiesenem »Grundwissen«. Eine zweite Variante wäre, bezüglich eines bestimmten Themas das Vorwissen der SchülerInnen über das kollaborative Schreiben zu bestimmen und sie sich dann selbstständig verbessern zu lassen. Ein schönes Beispiel ist innerhalb der 8. Jahrgangsstufe mit dem Thema »Reformation« zu finden: Wenn man die Klasse ein eigenes Wiki zum Thema »konfessionelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten« erstellen lässt, könnte die Lehrkraft aus der kath. Religionslehre sich mit ihrer Klasse ebenfalls einbringen, wodurch ein ökumenisches Lexikon entstünde. Dadurch würde man ökumenisch arbeiten und hätte nicht das organisatorische Problem, die konfessionelle Trennung der Klassen während des Unterrichts aufgeben zu müssen.
Nun kann man freilich schlecht solch ein Wiki über Wikipedia anlegen. Die interne Qualitätskontrolle würde dem schon entgegenstehen. Auch die sog. »Spielwiese« auf Wikipedia eignet sich nicht, da Beiträge dort, die zum Ausprobieren erstellt werden, nach kurzer Zeit gelöscht werden. Es wird also eine Plattform benötigt, die einerseits das Erstellen eines Wikis möglich macht und andererseits frei zugänglich ist. Hierfür bietet die Schulplattform »mebis« sicherlich eine Möglichkeit. Jedoch soll innerhalb dieses Vorschlags eine Möglichkeit ohne »mebis« aufgezeigt werden, die große Ähnlichkeit zur Arbeit an Wikipedia aufweist: »Wikia« bzw. »Fandom«. Diese Seite ist vom Prinzip her wie Wikipedia – nur dass sie bei Weitem nicht über die gleichen Qualitätsstandards durch eine interne Kontrolle verfügt. Nach einer Registrierung kann man dort sein eigenes Wiki erstellen und bekommt damit auch seine eigene Internetadresse zugewiesen. Man erhält die selben Grundfunktionen wie bei Wikipedia. Lediglich die Textverarbeitung unterscheidet sich insofern, als dass sie in Wikia leichter zu handhaben ist – vergleichbar mit Word oder OpenOffice. Der größte Vorteil ist, dass die SchülerInnen sich nicht bei Wikia registrieren müssen (können dies aber selbstverständlich), um am von der Lehrkraft erstellten Wiki mitzuarbeiten. Zudem wird die Lehrkraft über jede Änderung des Wikis direkt per E-Mail informiert. Dadurch kann die Erledigung der Schreibarbeit, die ggf. von Zuhause aus stattfindet, hervorragend kontrolliert werden. Theoretisch könnte zwar ein jeder die Wikia-Seite ändern (wie bei Wikipedia), dies wird aufgrund der großen Fülle des Angebots der Plattform und dem geringen Bekanntheitsgrad des eigenen Wikis im Netz jedoch in den seltensten Fällen passieren. Somit ist mit der Erstellung eines eigenen Wikis über Wikia ein perfektes »Trainingsgelände« für die SuS geschaffen. Seitens der Lehrkraft erfordert dieser Schritt natürlich auch das vorbereitende Vertrautmachen mit den Funktionen der Wikia-Webseite.
Kritisch hinterfragt werden muss natürlich die oben angesprochene Kehrseite eines Wikis. So kann es sein, dass im Verlauf der Arbeit am »Religions-Wiki« auch Änderungen vorgenommen werden, die falsch sind, evtl. sogar absichtlich. Dabei ist über Wikia nicht nachvollziehbar, wer genau dafür verantwortlich war. Dies ist aber auch nicht nötig, um eben für diese Gefahr zu sensibilisieren. Durch die Verfügbarkeit einer »Versionsgeschichte« lassen sich solche fehlerhaften Änderungen zudem leicht korrigieren.
Weiter könnte man meinen, dass Schüler*innen den Weg des geringsten Widerstandes gehen und einfach zu einem bestimmten Begriff im Wiki den entsprechenden Wikipedia-Artikel kopieren und einfügen. Abgesehen davon, dass das leicht zu überprüfen wäre, kommt noch ein sehr wichtiger Umstand hinzu: die Qualität der Artikel auf Wikipedia. Das deutsche Wikipedia ist das qualitativ hochwertigste von allen und weist dementsprechend auch eine schwierige Fachsprache auf. Besonders in Unter- und Mittelstufe werden sich Schüler*innen mit den Wikipedia-Artikeln schon schwertun, was erneut eine wichtige Funktion der Nutzung eines eigenen »Religions-Wikis« zeigt: die sprachliche Reduktion auf das Wesentliche und für den jeweiligen Schüler Verständliche. Besonders im Kontext von religiöser Sprache, die teilweise durch fehlende religiöse Sozialisierung nahezu unverständlich wird, ist eine solche Reduktion von immenser Bedeutung, um den Schüler*innen Glaubensinhalte wieder näher zu bringen. Somit würde man ganz lutherisch den Schüler*innen in der digitalen Welt »aufs Maul schauen.«
Abgesehen von der Internetrecherche ist es natürlich auch empfehlenswert, eine solche Einheit mit einer Bibliothek zu koppeln. Sofern eine Schulbibliothek vorhanden ist, die auch über einen gewissen Fundus an theologischer bzw. geisteswissenschaftlicher Literatur verfügt, kann die Recherche auch zuerst dort »klassisch« stattfinden und anschließend bei Bedarf durch das Internet ergänzt werden.
Als letzter Punkt ist noch zu bemerken, dass Wikipedia zwar schon sehr groß ist, aber mit Sicherheit nicht allumfassend. Es wäre also auch im Rahmen eines »Religions-Wikis« daran zu denken, dass Teile des Endergebnisses Eingang in Wikipedia finden können. Hierzu müsste sich ein/e Schüler*in oder die Lehrkraft registrieren (kostenlos) und den entsprechenden Teil in Wikipedia einbringen. Sollte die interne Qualitätsprüfung bestanden werden, wird die Klasse somit zum Mitautor bei Wikipedia, worauf man als Schüler*in sicher stolz sein kann.
Josef Last
Die Schüler*innen können…
Der/die Schüler*in benötigt
https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschregeln
https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Relevanzkriterien
https://community.fandom.com/de/wiki/Community_Deutschland