Buchempfehlung

Klaas Huizing: Verzaubert leben. Eine Roadmap zum Heiligen


Gütersloher Verlagshaus 2024, ISBN 978-3-579-08254-7

Klaas Huizing hat mit seiner "Lebenslehre" (Huizing, Klaas [2022]: Lebenslehre. Eine Theologie für das 21. Jahrhundert, Gütersloh) einen beeindruckenden Vorschlag unterbreitet, wie christliche Dogmatik neu gedacht werden kann. In seinem weitaus handlicheren Buch "Verzaubert leben" liefert er eine kompaktere Möglichkeit, um in seinen Denkraum einzutauchen.

Auf den ersten 120 Seiten lädt uns der Autor dazu ein, ihn an Orte und in Situationen zu begleiten, wo sich eine Ahnung des Heiligen finden lässt.
Er zeigt uns Landschaften, die einen immer wieder verzaubern und in ihren Bann ziehen oder entführt uns nach Rom, zu Leonardo da Vincis Fresco in der Sixtinischen Kapelle, wo neben Gott die Frau Weisheit Patin bei der Erschaffung Adams steht (S. 105-109). Auch ein Friedhof (S. 110-116) oder ein Fußballstadion (S. 66-70) sind in der Karte verzeichnet. Auf keinen Fall darf die Auseinandersetzung mit beeindruckenden und ergreifenden Kunstwerken fehlen, die uns mit dem mysterium tremendum et fascinosum konfrontieren (S. 70-74).
Huizing ermutigt, sich mit offenen Sinnen auf Begegnungen/leibliche Erfahrungen mit Beeindruckendem, Ergreifendem und Verstörendem einzulassen und Funken des Göttlichen darin zu finden. Aber wenn es dabei bliebe, wäre schnell eine Beliebigkeit erreicht. "Die Erfahrungsqualitäten von religiösen Erfahrungen verlangen eine Prüfung durch die Vernunft." Sie muss prüfen, "[...] ob die gemachten Erfahrungen sozial lebensdienlich1 sind oder aber ausgrenzen, rassistisch und versteckt kolonialistisch getränkt sind. Das ist neu: Hier ist die Vernunft nicht dazu da, den Leib zu dominieren, sondern die Vernunft dient 'nur' dazu, den existentiellen Ernst und die Tiefe der Erfahrung anhand der genannten Kriterien zu prüfen und für den eigenen Lebensentwurf zu bewerten.“ (S. 48)

Mit der Überschrift "Deutungsagenturen des Heiligen" beschreibt Huizing zunächst wichtige Gesprächspartner und Anregungsgeber seines Denkens. Hartmut Rosas Resonanzkonzept (Soziologie), Martin Seligmanns positive Psychologie (Psychologie) und Herrmann Schmitz' Leibphänomenologie (Philosophie) werden knapp und nicht ohne Anspruch skizziert.
Abschließend entwirft Huizing auf relativ wenigen Seiten ein sehr einleuchtendes und, wie ich finde, überaus zeitgemäßes theologisches Konzept, sozusagen als Quintessenz seiner Lebenslehre. Menschen begegnen Gott – dem Heiligen – immer leiblich. Es geht um Betroffenheiten mit unbedingtem Ernst. "Immer sind es Erfahrungen von Bedeutsamkeit für mich, die mir etwa Kreativität einstiften, einen neuen Lebensweg auslösen oder einen Neuanfang möglich machen." (S. 173) Theologie ist ein System der Deutungen solcher Betroffenheiten.
Über die Bedeutung der Bibel schreibt Huizing: "Biblische Texte machen [...] Angebote, wie mit Krisensituationen lebensklug umgegangen werden kann." (S. 176) Sie inszenieren Menschheitsfragen und laden uns ein, in die Texte einzutauchen und uns spielerisch zu identifizieren – natürlich auch mit dem erzählten Jesus, wie er uns im Neuen Testament begegnet.
Durch diesen Ansatz werden theologische Aussagen greifbarer und verständlicher – auch für den religionspädagogischen Kontext. Einige Beispiele:
Dass das christliche Reden von Schöpfung in keinem Widerspruch zu dem Weltbild des 21. Jahrhunderts steht, ist evident, aber was meint es dann? Huizing übersetzt überaus nachvollziehbar: "Schöpfung ist ein Weltgefühl, das die Welt als mit Sinn und Ziel ausgestattetes Geschehen (die Evolutionstheorie kennt kein Ziel und keinen transzendenten Sinn) deutet und es uns ermöglicht, Dankbarkeit zu adressieren." (S. 175)
Auch der so oft in kirchlichen Kontexten strapazierte Begriff des Heils wird mit folgender Deutung greifbarer: "Heil ist immer eine positive Erfahrung. Anders gewendet: Wo positive, hoch bedeutsame Erfahrungen gemacht werden, ist Heil. Wo negative Erfahrungen gemacht werden, droht Unheil, Leid, Krankheit. Unglück und Tod haben keinen Sinn. Krankheit und Leid ist keine Strafe Gottes, wie das Hiob Narrativ zeigt. Gegen das Unheil muss geforscht, gekämpft, gestritten, beigestanden werden. Das ist zugleich die Aufgabe  der wissenschaftlichen Entdämonisierung des Ängstigenden." (S. 178)
Und auch Huizings Versuch, einer futuristischen Eschatologie neues Leben einzuhauchen, gelingt: „Das Leben im lebendigen Leib [wohlgemerkt nicht einer unsterblichen Seele A.d.V.] darf nicht durch den Tod festgeschrieben werden. Ich plädiere für eine Unsterblichkeit des Leibes als Erlösung von der Festschreibung der Geschichte, die auch die Frage nach der ausgleichenden Gerechtigkeit neu positioniert und einen Deutungsvorschlag macht: In der reinen Atmosphäre der göttlichen Liebe können Opfer den Tätern, die sich alle für ihre Taten schämen [...] vergeben."

Es macht Freude, sich auf diese Entdeckungsreise mitnehmen zu lassen, auch wenn philosophische Exkurse in ihrer Dichte etwas Mühe bereiten. Aber die ernsthafte und vor allem lebensfreudige Atmosphäre, die dem Buch innewohnt, sowie die überraschenden und erhellenden Deutungen machen die Lektüre zu einem Gewinn.
Und in der nächsten Situation, in der man schwierigen Fragen von Schüler:innen gegenübersteht, werden bestimmt neue Antworten und Ideen aufblitzen.

Ulrich Jung, Referent für Inklusion und Förderschulen am RPZ Heilsbronn

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1Angesichts der Subjektorientierung in der religionspädagogischen Praxis stellt sich die Frage nach einem Kriterium inhaltlicher Art und nach Grenzen der Wertschätzung. Pohl-Patalong schlägt hierfür ebenso den Begriff der "Lebensfreundlichkeit" vor. Was unter "lebensfreundlich" zu verstehen ist, wird durch die Abgrenzung deutlich: Lebensfreundlichkeit bedeutet auch, sich gegenüber Einstellungen abzugrenzen, die anderen gegenüber "lebensfeindlich" sind, indem sie Menschengruppen abwerten oder ihnen feindlich gegenüberstehen. Ebenso "[...]religiöse Überzeugungen, die der eigenen Person gegenüber 'lebensfeindlich' sind, indem sie diese abwerten, unter Druck setzen und an einem erfüllten und selbstbestimmten Leben hindern [...]" (Vgl: Pohl-Patalong, Uta (2024): Förderung einer lebensfreundlichen Haltung: An den religiös-weltanschaulichen Überzeugungen arbeiten, in: Eisenhardt, Saskia/Leinung, Silja/Pohl-Patalong, Uta (2024): Religionsunterricht gestalten in der digitalisierten Welt, S. 173-192, Göttingen, hier: S. 174.)

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