Menschen haben ein Recht auf Bildung und auf freie Religionsausübung auch im Raum der Schule. Das Recht auf Religion ist ein Menschenrecht und bedarf einer entsprechenden Bildung. Der Religionsunterricht hilft, Religion als einen eigenen Weltzugang wahrzunehmen.
Evangelische Bildungsverantwortung auch in öffentlichen Schulen wahrnehmen heißt: Mit dem Evangelium als kritischem Maßstab die Lernenden mit ihren Fragen ins Zentrum der pädagogischen Arbeit stellen.
Bevor unter den Punkten 1 – 7 die oben genannten Begründungen ausführlicher erläutert werden, ist kurz auf die Frage einzugehen, warum solche Plausibilisierungen notwendig geworden sind und welches Verständnis von Religionsunterricht den Überlegungen zugrunde liegt.
Der Religionsunterricht wird von verschiedenen Seiten kritisch angefragt. Ist er noch zeitgemäß oder ist er überflüssig geworden? Die Akzeptanz von Religionen in ihrer kirchlichen Verfasstheit schwindet, was sich unter anderem darin äußert, dass teilweise weniger als die Hälfte der Schüler:innen getauft sind. Auch von Seiten anderer Lehrkräfte und Schulleitungen wird der Religionsunterricht vermehrt in Frage gestellt. Mit der Bezugnahme auf GG Art. 4 und Art. 7 können die immer wieder gestellten Anfragen an den Religionsunterricht nicht alleine beantwortet werden, sondern sie verlangen nach einer Plausibilisierung durch vielfältigere Argumentationen.
Das dem Text zugrundeliegende Verständnis des Religionsunterrichts ist ein positioneller Religionsunterricht, der nicht darauf zielt, dass Lernende ein bestimmtes Bekenntnis übernehmen, sondern der den Lernenden eine eigene begründete Positionierung ermöglichen will. Das Ziel kann als Empowerment bestimmt werden, was bedeutet, dass der Unterricht für die Lernenden eine subjektive Bedeutsamkeit entwickeln kann und für ihr eigenes Leben als relevant erfahren wird. Er will die Menschen befähigen, ihr Leben mündig und solidarisch zu gestalten.
Dafür bedarf es Lehrkräfte, die aufgrund eigener Überzeugung und religiöser Praxis auf authentische Weise zu Fragen der Religion auskunftsfähig sind. Außerdem benötigt dieses Unterrichtsfach eine hohe fachwissenschaftliche und fachdidaktische Kompetenz der Lehrkräfte, die umso höher sein muss, je leistungsschwächer die Schüler:innen sind[1].
Kinder und Jugendliche begegnen biblischen Spuren und religiösen Traditionen, insbesondere aus Judentum, Christentum und Islam, in ihrer Gegenwart; sei es in Feiertagen, Redeweisen oder einer städtebaulichen Grundstruktur (z. B. Kirchengebäude, Friedhöfe, Kunstwerke). Das Wissen um das historische Gewordensein des eigenen Lebenskontexts und der damit verbundenen religiösen Prägungen ist eine wichtige Voraussetzung, um gesellschaftlich partizipieren zu können und Texte, Bilder, Zusammenhänge und Verhaltensweisen (z. B. viele Bräuche sind durch die christliche Religion geprägt) deuten zu können. Aber auch in Kunstwerken, Filmen, Serien, Computerspielen und anderen medialen Werken begegnet ihnen eine Vielzahl an religiösen Motiven, die verstanden und gedeutet werden müssen. Dafür vermittelt der Religionsunterricht lebensrelevantes Wissen über Religionen und Weltanschauungen und ermöglicht diese zu verstehen.
Das Grundrecht auf religiöse Bildung (GG Art. 4 und Art. 7) schließt auch die Anerkennung anderer Lebensentwürfe ein und will zu einem toleranten Zusammenleben befähigen. Der Religionsunterricht ermöglicht daher Orientierung in einer pluraler werdenden Welt, in der „Religion“ nicht nur eine persönliche Überzeugung darstellt, sondern auch zur Differenz setzenden Zuschreibung werden kann. Sie wird vor allem von rechtspopulistischen und fundamentalistischen Gruppen missbraucht, um Fremdheit und Minderwertigkeit von anderen Personengruppen zu konstruieren, wie es sich in Antisemitismus oder Muslimfeindlichkeit zeigt. Durch Information über verschiedene Religionen und Weltdeutungen kann der Religionsunterricht dazu beitragen, Zerrbilder zu dekonstruieren und Vorurteile abzubauen. Es gibt kaum einen anderen Raum, in dem die Kommunikation über verschiedene Glaubenstraditionen, über Verbindendes und Trennendes eingeübt werden kann und ein dialogischer Austausch über andere Religionen und Weltanschauungen möglich ist. Gerade das Erzählen von eigenen Weltdeutungen und Traditionen innerhalb einer Lerngruppe schafft Verständnis und reduziert Vorurteile.
Um in einen solchen Dialog über Religion und Weltanschauungen treten zu können braucht es eine religiöse Sprachkompetenz. Zu deren Entwicklung und Förderung ist der Religionsunterricht als Lernraum von nicht zu überschätzender Bedeutung. Religiöses Sprachkompetenz ermöglicht den Schüler:innen existenzielle Fragen wahrzunehmen, zu diskutieren und ihren Gedanken darüber Ausdruck zu verleihen. Diese Fähigkeit ist auch eine Voraussetzung, um Missbrauch von Religion zu erkennen und abzuwehren.
Die Entwicklung einer offenen Dialogfähigkeit wird auch durch eine Sensibilisierung gegenüber fundamentalistischen und extremistischen Formen von Religion unterstützt. Durch Information über Strukturmerkmale und Funktionsmechanismen fundamentalistischer und sektenähnlicher religiöser Gruppen kann der Religionsunterricht dazu beitragen, dass Jugendliche deren negative Wirkungen erkennen, und dadurch vor der Beeinflussung durch solche Gruppen geschützt werden. Mirjam Schambeck konstatiert, dass nicht nur im Islam, sondern auch im Judentum und insbesondere im Christentum eine zunehmende Tendenz von radikalen Gruppierungen und Fundamentalisierungen zu beobachten ist. Als Beispiele führt sie das Gebetshaus in Augsburg und die Loretto-Gemeinschaft (Salzburg und Passau) an.[2]
Religion ist ein eigenständiger Weltzugang. Prof. Dr. Jürgen Baumert[3] unterscheidet vier Modi der Weltbegegnung, die jeweils eigene Sichtweisen auf die Welt beinhalten und die sich gegenseitig ergänzen: Die kognitiv-instrumentelle Sichtweise der Welt (Mathematik, Technik, Naturwissenschaften); eine spezifische Sichtweise der Ästhetik und des Ausdrucks (Kunst, Literatur, Musik etc.); die Sichtweise von normativen Fragen, die Recht, Wirtschaft oder Gesellschaft aufwerfen – und die philosophisch/religiöse Sichtweise, also die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu des menschlichen Lebens. Religion stellt also einen eigenen Weltzugang dar, der durch keinen anderen zu ersetzen ist, und der in spezifischer Weise ermöglicht, die Welt zu verstehen.
Jeder Mensch stellt sich früher oder später sinnbezogene Fragen, setzt sich mit den sogenannten „großen“ Fragen des Lebens auseinander (z.B. Welchen Sinn hat mein Leben? Was ist nach dem Tod?), ist in verschiedener Weise religiös ansprechbar und hat Dinge, die ihn unbedingt angehen.[4] Diesen Fragen ist im Rahmen ganzheitlicher Bildung auch im Raum der Schule nachzugehen, wofür der Religionsunterricht einen geschützten und qualifizierten Rahmen bietet. Die Schüler:innen können einen eigenen Standpunkt im Gespräch mit anderen und im Diskurs mit religiösen Quellen wie der Bibel entwickeln. Dabei stehen die verschiedenen Weltzugänge in keinem Widerspruch zueinander, sondern treten miteinander in einen Dialog und die verschiedenen Sichtweisen ergänzen und bereichern sich gegenseitig.
Der Religionsunterricht eröffnet durch seine Inhalte und deren religionspädagogische Gestaltung Lern- und Lebensräume, die den Schüler:innen resilienz- und persönlichkeitsstärkende Entwicklungen ermöglichen, um auch in begrenzenden und belastenden Lebensumständen bestehen zu können. Diese Inhalte sind von Narrativen bestimmt, die sich vor allem in biblischen Erzählungen und christlich geprägten Ritualen konkretisieren.
Persönlichkeit-stärkende Narrative unterstützen die Entwicklung eines positiven Selbstbilds der Kinder und Jugendlichen. Der Religionsunterricht bietet dafür einen Denk-Raum, indem er zur Auseinandersetzung mit dem Selbstbild und der Frage „Wer bin ich?“ herausfordert. Die Annahme durch einen liebenden Gott kann in biblischen Erzählungen, Ritualen und exemplarisch im Handeln von Menschen erfahren werden. Auch die vorbehaltlose Zuwendung Jesu zu allen Menschen, die durch Geschichten und Rituale vermittelt wird, eröffnet Perspektiven, sich als liebenswerter Mensch zu begreifen und als Teil einer Gemeinschaft von ebenfalls liebenswerten Menschen zu verstehen.
Narrative, die Sicherheit und Vertrauen (Urvertrauen) vermitteln sind vielfach Inhalte des Religionsunterrichts. Bereits die Schöpfungserzählungen sind von einem Menschenbild geprägt, das den Menschen ohne Leistung als „sehr gut“ qualifiziert. Die Würde des Menschen gründet in seiner Gottebenbildlichkeit, die weder nach kognitiven, moralischen, noch nach körperlichen Voraussetzungen (gängige Schönheitsideale, sogenannte Behinderungen) fragt. Der Gedanke, von Gott gehalten zu sein und begleitet zu werden, hat einen tröstenden und Sicherheit vermittelnden Charakter. Viele biblische Geschichten berichten von Menschen, die auch durch Krisen gehen und Rettung und Stärkung erleben (z. B. die Josefsnovelle).
Biblische Narrative eröffnen heilsame Möglichkeiten des Umgangs mit Krisen. Der Religionsunterricht kann als ein Gesprächsraum verstanden werden, in dem belastende Lebenserfahrungen benannt und eingeordnet werden können. Das Benennen von belastenden Erfahrungen schafft Distanz und bringt die betroffene Person wieder in eine aktive Rolle. Die in der Theologie und der Religionspädagogik wenig beachtete Form der Klage, wie sie in den individuellen Klagepsalmen einen vielfältigen Ausdruck findet, kann Schüler:innen für ihre belastenden Lebenserfahrungen, ihre Wut und Trauer aber auch für eigene Schulderfahrungen sprachfähig machen.[5] So können Kinder und Jugendliche Strukturen entwickeln, um mit Leid und Sinnlosigkeit umzugehen. Sie können Wege entdecken, um mit Kontingenzerfahrungen lebensfreundlich umzugehen.
Darüber hinaus ist auch die politische Dimension im Blick. Armut, Ausgrenzungsprozesse und ungerechte Bildungschancen sind menschengemachte Systeme von Ungerechtigkeit, die durch gemeinsames Handeln verändert werden können.
Lebensförderndes Verhalten innerhalb einer Gemeinschaft kann als ein zentrales Thema der biblischen Botschaft identifiziert werden. Narrative eines gelingenden Zusammenlebens der Menschen wie z.B. die Gleichnisse Jesu, eröffnen einen Resonanz- und Reflexionsraum für lebensdienliches Verhalten. Der Religionsunterricht bietet den Schüler:innen ethische Orientierung an und schafft Räume, um sich mit der Frage nach richtigem und falschem Verhalten auseinanderzusetzen. Er eröffnen auch Lernfelder in der Begegnung mit fremden Verhaltensnormen, wie den Antithesen der Bergpredigt. Eine differenzierte Beschäftigung mit Lebensregeln, wie den zehn Geboten, fordert zu einer Erweiterung der Urteilsbildung, jenseits eines Schwarz-Weiß-Denkens von richtig oder falsch, heraus.
Religiöse Schulfeiern (z. B. Schulgottesdienste) ermöglichen Gemeinschaftserfahrungen im Lebensraums Schule. Durch deren gemeinsame Gestaltung als gruppenübergreifende Projekte stärken sie den Zusammenhalt und ermöglichen verschiedensten Beteiligten ihre individuellen Fähigkeiten in die Gemeinschaft einzubringen. Sie helfen bei der Gestaltung und Bewältigung von Übergängen (z. B. Schulabschluss) oder Krisen und strukturieren das Schuljahr.[6]
Angebote der Schulseelsorge bieten Schüler:innen, pädagogischen Fachkräften und Eltern Möglichkeiten der Unterstützung in einem geschützten Rahmen für verschiedenste Lebensfragen.[7] Ausgehend von Lebenssituationen, die nicht unbedingt mit krisenhaftem Erleben verbunden sein müssen, kann durch „Tür-und-Angel-Gespräche“, persönliche Beratung, Orte der Stille und des Nachdenkens, Orte der Klage und des Fragens sowie andere Formen der liturgisch-spirituellen Begleitung konkrete Lebenshilfe erlebt werden.
Schulseelsorge reagiert auch mit anlassbezogenen Angeboten auf besondere Ereignisse wie zum Beispiel den Tod eines oder einer Angehörigen der Schulgemeinschaft und andere Krisen.[8] Auch anlassbezogene Schulfeiern (z. B. Trauerfeiern) sind in solchen Fällen eine Unterstützung für die Bewältigung von schwierigen Situationen.
Der Religionspädagoge Michael Meyer-Blanck formulierte: „Bildung ohne Religion ist unvollständig, Religion ohne Bildung ist gefährlich.“ Beiden Teilen dieser Aussage ist zuzustimmen und sie verdeutlichen, dass religiöse Bildung in der Schule sowohl für das Zusammenleben der Gesellschaft bedeutsam ist, als auch für die einzelnen Schüler:innen eine Persönlichkeitsstärkung und Bereicherung darstellt.
Literatur zur Vertiefung
Verzeichnis der verwendeten Literatur
Zusammenstellung:
Pfr. Ulrich Jung, Referent für Förderschulen am RPZ Heilsbronn
November 2023
[1] Mirjam Schambeck fordert: „Wenn hoch professionelle Lehrkräfte in den Klassen umso wichtiger sind, in denen leistungsschwächere Schüler:innen lernen, bleibt im Zuge der höchst notwendigen Bildungsgerechtigkeit zu überlegen, wie Anreize geschaffen werden können, die besten Lehrer:innen in den schwierigsten Klassen einzusetzen.“ (Schambeck, Mirjam (2022): Von Gott, Jesus, Religionen und so. Was Religionslehrer:innen wissen müssen, Freiburg, S. 87.)
[2] Vgl. Schambeck, Mirjam (2022): Von Gott, Jesus, Religionen und so. Was Religionslehrer:innen wissen müssen, Freiburg, S. 101.
[3] Vgl. Jürgen Baumert: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In: Nelson Killius/Jürgen Kluge/Linda Reisch (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung. Frankfurt/Main 2002, S. 100-150.
[4] Obwohl Jugendliche oft nicht explizit auf die Gottesfrage Bezug nehmen, zeigen ihre eigenen Deutungs- und Verhaltensmuster eine Durchlässigkeit auf eine Tiefendimension, die der christlichen Gottesfrage nicht fremd ist. Wie Jugendstudien zeigen, ist dreiviertel der Jugendlichen das Gebet nicht fremd und wird auch praktiziert. Vgl. Schambeck, Mirjam (2022): Von Gott, Jesus, Religionen und so. Was Religionslehrer:innen wissen müssen, Freiburg, S. 101-102.
[5] Ausführlich widmet sich Barbara Strumann diesem Thema und zeigt Möglichkeiten der unterrichtlichen Umsetzung im sonderpädagogischen Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung auf: Strumann, Barbara (2018): In Psalmen der Gewalt begegnen. Überführung der Gewaltverflochtenheit in Sprache, Paderborn.
[6] Wie solche Feiern auch in einem multireligiösen Kontext möglich sind, wird in dem Text „Grundlagen und Modelle für gemeinsame Feiern in einem multireligiösen Schulkontext“ erörtert: Kostenloser Download unter: https://www.rpz-heilsbronn.de/grundlagen-und-amtliche-verlautbarungen/gemeinsame-schulfeiern-im-multireligioesen-kontext/ (abgerufen am 25.8.2023)
[7] Vgl. EKD (2015): Evangelische Schulseelsorge in der EKD. Ein Orientierungsrahmen = EKD-Texte 123, Hannover
[8] Für diese Fälle ist das „Notfallhandbuch Schule für den Umgang mit Tod und akuten Krisen“ zu empfehlen: Evang.-Luth. Kirche in Bayern/Kath. Schulkommissariat in Bayern (Hg.) (2018): Notfallhandbuch Schule für den Umgang mit Tod und akuten Krisen, Heilsbronn.